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DAS JÜDISCHE LOGBUCH Mitte Januar 2024

Yves Kugelmann
 

Marrakesch (Weltexpresso) - ,Die Narben des Erdbebens von September sind überall sichtbar. Viele Lehmhäuser im historischen Teil der Stadt am Fusse des Atlasgebirges liegen noch in Trümmern, die Jahrhunderte alten Türme der Moscheen müssen gestützt werden. Die Synagogen in der Medina stehen noch. Doch die Häuser im alten jüdischen Viertel rundherum sind zum Teil beschädigt oder ganz in Trümmern. Die Häuserzeilen neben der Slat-al-Azma-Synagoge werden abgerissen. Die Händler in den Strassen jedoch sind zuversichtlich, auch wenn seit den Anschlägen des 7. Oktober die Zehntausenden Israeli kaum mehr nach Marokko reisen.


Die gestrichenen Direktflüge, die Angst vor Reisen in muslimische Länder nach Presseberichten zu Pro-Palästina-Demonstrationen wirken nach. Doch ganz weggeblieben sind sie dann doch nicht. Juden und Israeli mit marokkanischen Wurzeln verbringen jeweils die Winterwochen in Marokko, viele leben inzwischen auch in Frankreich. In den Geschäften der Medina und weiter östlich im Shouk finden sich neben den muslimischen Kultgegenständen Chanukkioth, Menoroth, Kidduschbecher, Messusoth und so fort.

Das Gespräch über Juden und Israel mit den Händlern und im Taxi hat sich auch jetzt nicht geändert. Es bleibt offen, doch die Sorge ist auch auf Marokkos Strassen zu spüren – einem Land mit einer historisch liberalen Kultur des Vielvölker- und multireligiösen Zusammenlebens. In der Synagoge in der Neustadt sind an diesem Freitagabend rund zwanzig Menschen anwesend. Ein Teil kommt aus Marokko, andere aus Frankreich und afrikanischen Ländern. Vor der Synagoge steht mehr Polizei als sonst. Die Gattin des Maschgiachs sagt, dass auch früher nicht mehr Menschen zu Besuch waren. Aber die Touristen fehlen.

Ein Teil der vierzehn koscheren Restaurants haben nach dem Ausbleiben der Touristen geschlossen. Die marokkanische Mitarbeiterin des Restaurants Bethsabee sagt, dass die Inhaber das Restaurant neben der Medina nicht mehr öffnen werden. Sie hätten Angst vor Anschlägen, wie einer nach der zweiten Intifada in einem koscheren Restaurant in Casablanca im Jahr 2003 vierzig Menschen in den Tod gerissen hat. Tags darauf findet neben dem Grand Café de la Poste eine Pro-Palästina-Kundgebung statt. Familien mit Kindern zeigen Solidarität. Die Stimmung ist nicht gehässig, anders als auf den Strassen Europas finden sich an diesem lauen Abend keine sichtbaren antisemitischen oder antizionistischen Agitationen. Eine Marokkanerin übersetzt die Slogans und Reden, die Polizei beobachtet aus der Ferne das Geschehen. Bis Israeli wieder nach Marokko reisen werden, dauert es. Doch die Gattin des Maschgiachs im Hof der Synagoge ist überzeugt, dass dies gar nicht so lange dauern werde. Sie allerdings macht sich ganz andere Sorgen. Die jüdische Gemeinschaft von Marrakesch hätte keinen eigenen Rabbiner. Einen solchen gibt es nur in Casa-blanca für die rund 2500 Jüdinnen und Juden im Lande.

Werden Juden und Muslime wieder eine Ebene des Vertrauens schaffen? Jetzt, da sich die meisten in ihre eigenen Gemeinschaften zurückgezogen haben, verängstigt, enttäuscht, schockiert, mögen sie teils militanter werden. Jetzt, da die verschiedenen Seiten die andere nicht mehr hören, das Leid der anderen nicht hören oder verstehen wollen? Jetzt, da viele sagen, der 7. Oktober sei anders, da gäbe es kein Zurück mehr. Jetzt, da Hundertausende in Israel nicht mehr in ihren Heimen leben, Millionen Palästinenser ihre Häuser verloren haben und sich im Gazastreifen ein humanitäres Drama ohne Perspektive abspielt. Jetzt, da die vielen Menschen ausserhalb der Konfliktregion sich den Krieg für den Krieg mit anderen Mitteln auf sozialen Medien zu Nutze machen und die «Anderen» stigmatisieren. Antisemitismus, Rassismus, Verschwörungen – überall.

Doch der kolonialistische Blick auf Konflikte war selten jener entlang der Realitäten, sondern oft jener der unerfüllten Wünsche der überforderten Zuschauerinnen und Zuschauer. Muslime und Juden haben immer wieder zueinander gefunden, nach den Vertreibungen, nach den Kriegen, den Terrorattentaten, den Intifadas, den Invasionen. Denn es gibt diese über Jahrhunderte gewachsene Kultur des Miteinanders, die immer stärker zurückgedrängt wird, aber nie verschwunden ist. Sie ist kein Friedensaktivismus, nicht gedrängt von Blindheit oder Naivität – sie ist letztlich das Selbstverständnis von Muslimen und Juden, auch wenn die Politik sich immer wieder dazwischenwirft. Ob das so bleiben kann, wird sich zeigen, wenn die brandgefährlichen extremistischen Ideologien die nächsten Generationen noch mehr vereinnahmen werden.

In der Medina indessen versuchen die Bewohnerinnen und Bewohner die Schäden des Erdbebens zu beseitigen. Die Regierung hat Gelder gesprochen für den Wiederaufbau. Ein marokkanischer Schreiner fertigt an diesem Nachmittag neue Türen. Die Händler sind seit einigen Tagen wieder in den Geschäften, als ob die neue alte Zukunft bald anklopfen würde. Das Vertrauen vieler Menschen in diese Zukunft existiert, doch alle wissen, dass die Extremisten lauern. Viele haben Angst vor der Eskalation in Nahost, denn irgendwann wird die Strasse angesichts der Bilder von dort aufbegehren, wie schon in den letzten Kriegen.

Auf dem Jama El-Fnah ist es inzwischen dunkel geworden. Die Gaukler, Magier, Schlangenbeschwörer, Geschichtenerzähler, die Wahrsagerinnen, Musiker sind zurück. Die jüdische Familie aus Frankreich läuft fasziniert durch eine Szenerie wie aus anderen Zeiten. Sie hätten sich überlegt, ob sie in diesem Jahr nach Marokko fahren sollten. Doch jetzt sind da und froh darüber. «Als wir hier angekommen sind, habe ich wieder das Vertrauen erfahren, das auf Distanz fehlt», sagt die Mutter von zwei Kindern. Und ihr Mann fügt an: «Wir leben in Paris. Doch das hier ist unser Zuhause. Man kann das nicht erklären.»

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Info: 
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 12. Januar  2024
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.