Verlegung 7718Neue Stolpersteine in Schlüchtern,  Teil 1


Hanswerner Kruse

Schlüchtern (Weltexpresso) – Vor einigen Tagen wurden in der Schlüchterner Innenstadt 16 neue Stolpersteine an drei Orten verlegt. Die kleinen Messingplatten mahnen an die Opfer der Naziherrschaft und die vertriebenen oder ermordeten Menschen, die symbolisch an ihren letzten freiwilligen Wohnort zurückkehren. 


Sinnbildlich kommen ebenfalls auseinandergerissene Familien wieder zusammen. 57 dieser Gedenksteine wurden bereits seit 2019 in das Straßenpflaster eingelassen. Man soll nicht wirklich über sie stolpern, sondern im übertragenen Sinn sollen die Menschen mit dem Kopf und dem Herzen stolpern.

Es gab die Befürchtung, dass die Zeremonien zur Verlegung als Routinehandlungen verflachen – doch das Gegenteil ist der Fall: Nachfahren der Naziopfer reisten aus Israel oder anderen Ländern an. Fortdauernde Kontakte zwischen ihnen und Mitgliedern der Stolpersteingruppe sind entstanden. Heranwachsende wirkten mit, an den öffentlichen Ritualen nehmen bis zu 100 Personen teil. Auch diesmal sind sechs israelische Verwandte zu Gast in unserer Stadt, werden im Rathaus empfangen, schauen sich Schlüchtern an, besuchen die alte Synagoge und jüdische Friedhöfe. Schülerinnen der Kinzigschule tragen bei der Verlegung Berichte von Zeitzeugen vor. Der Jugendchor der evangelischen Kirchengemeinde wird singen. So wächst in unserer Stadt langsam eine Erinnerungskultur.

Der Heimat- und Geschichtsverein Schlüchtern, als Träger der Veranstaltung, gibt erneut eine Broschüre heraus, in der das Wissen über die aktuell erinnerten Menschen zusammengefasst ist. Die Einleitung beschäftigt sich mit der jüdischen Gemeinde in Schlüchtern. Aber die Stolpersteine sollen nicht nur an misshandelte und ermordete Juden erinnern, sondern ebenfalls an andere Gejagte der Naziherrschaft. 2024 wurde ein Gedenkstein für einen geschundenen Kommunisten verlegt. In diesem Jahr wird an die vernichteten Sinti Wagner erinnert, an die mosaischen Seelig-Frauen und die Familie Oppenheimer. 

Stolpersteine für wen?


Familie Wagner Wassergasse 16

Mit dem Gedenken an die Sinti-Sippe Wagner und ihrer Geschichte werden die Zeremonien beginnen. Sie lebten in Schlüchtern in einem kleinen Wohnwagen, mit dem sie zwischen Hanau und Fulda umherzogen und Waren verkauften. Aber angeblich ernährte sie sich durch Bettelei, die Nazi-Behörden zwangen sie ortsansässig zu werden. Ihr Wagen wurde beschlagnahmt, der Wandergewerbeschein eingezogen und sie mussten in der Wassergasse 16 wohnen. Vater Jakob Wagner war kriegsversehrt, ein skrupelloser Arzt entzog ihm die einst anerkannte Arbeitsunfähigkeit. Später vegetierten die Sinti wieder drei Jahre lang im Wohnwagen. Mildtätige Nachbarn – die gab es tatsächlich – unterstützten sie gelegentlich mit Lebensmitteln und kleinen Gaben. Geschlossen wurden die Eltern und ihre sieben Kinder – das jüngste war gerade drei Jahre alt – 1944 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Es existieren keine Bilder der Familie.



Dina und Rena Seelig Schmiedsgasse 2

Dina Seelig und ihre Tochter Rena betrieben in der Schmiedsgasse 2 ein Schreibwarengeschäft und galten den Nazis als „ungeliebte Juden“, so eine Zeitzeugin, deshalb ärgerten sie und andere Kinder oft die beiden Frauen. In der Pogromnacht 1938 wurde Dina überfallen, misshandelt und verletzt. Der Laden wurde verwüstet, alle Waren auf die Straße geworfen. Wie viele andere Juden flüchteten die beiden nach Frankfurt, weil sie sich dort in der größeren mosaischen Gemeinde sicherer fühlten. Doch die 72-jährige Mutter starb ein Jahr später an den erlittenen Misshandlungen und ihren Qualen. Ihre Tochter wurde 1941 in das Ghetto Minsk verschleppt und dort umgebracht. Von beiden gibt es ebenfalls keine Fotos.

Famile Oppenheimer Schlossstraße 10

Nathan und Cilli Oppenheimer erweiterten nach ihrer Hochzeit das Geschäft seiner Eltern. Sie bauten von der Mitgift ein neues Haus in der Schlossstraße 10 und verkauften fortan auch Fahrräder, Nähmaschinen, feine Stoffe und Konfektionswaren. Während er seine kaufmännische Reisetätigkeit im Kreis erweiterte, führte sie den Laden.

In der Reichspogromnacht drangsalierte man die Oppenheimer besonders brutal, sie wurden fast vollständig ausgeraubt. Mitbürger, die mit Autos kamen, um das Geraubte abzutransportieren, wurden zu gewöhnlichen Kriminellen. Niemand belangte sie. Doch wie viele ältere Juden flüchteten die Eltern nicht nach Frankfurt oder ins Ausland. Sie wurden 1942 deportiert und später in Auschwitz ermordet. Ihre Kinder Irmgard und Ernst retteten sich bereits 1937/38 nach Palästina, Tochter Käthe entkam 1939 nach England. Ernst Oppenheimer beging Suizid, als er vom Tod seiner Eltern erfuhr.

Wird fortgesetzt

Fotos:
© Hanswerner Kruse
Oben: Leute bei der Zeremonie zur Verlegung der Stolpersteine
Mitte: Eine israelische Besucherin vor den Stolpersteinen der Sinti
Unten: Die sechs israelischen Besucher, Nachfahren der Familie Oppenheimer, kamen zu den Verlegungen der Stolpersteine  nach Schlüchtern