Theologische Impulse (184) Thorsten Latzel
Ich habe in den vergangenen drei Jahren Abschied nehmen müssen – von meiner Schwiegermutter, meinem Vater, meiner Mutter. Die erste Trauer ist vorbei. Auch die Grundmelancholie in den Monaten danach. Geblieben ist ein Gefühl erwachsenen Verwaistseins. Von einer Lücke, einem Verlust. Die Welt ist leerer geworden. Etwas weniger Heimat.
Als Pfarrer habe ich viele Menschen in ihrer Trauer begleitet, Trost, Hoffnung zugesprochen. Selber Tod, Abschied zu erfahren, hat mich verändert, auch mein theologisches Reden und Denken. Die Nummer meiner Eltern habe ich noch immer in meinem Handy. Ihre Namen löschen konnte oder wollte ich nicht. Das mag sentimental klingen, ist mir aber schnuppe. Manchmal habe ich das Bedürfnis, ihnen etwas zu erzählen: von unseren Kindern, unserem neuen Hund, vom normalen Wahnsinn des Alltags. Ihre Stimme zu hören.
Geht natürlich nicht. Nicht mehr. Aber ich glaube, dass das eben dennoch nicht das Ende unserer Beziehung ist. Dass es in Gott weiter einen Draht zwischen uns gibt. Sie bei Gott geborgen sind. Jedes Mal, wenn ich im Glaubensbekenntnis spreche: „Ich glaube ... an die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ – dann gilt das immer auch ihnen. Der Himmel ist für mich bewohnter, vertrauter geworden, hat Gesichter bekommen.
Ein paar geistliche Gedanken zum Ewigkeitssonntag:
1. Verplemperte Zeit – Warteschleifen am Telefon, unsinnige Streitereien, Verkehrsstau, endlose Diskussionen, die nichts bringen, digitale Zeitfresser im Netz. Ich merke, dass Zeit kostbarer geworden ist – und wie leichtfertig ich sie im Alltag immer wieder vergeude. „Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz“ (Ps 90,9). Es gibt leere, funktionalisierte „Als-ob-Zeit“. Zeit, die ich dumm verbringe, absitze, verdaddele, als ob sie keinen Wert hätten. Als ob ich ewig leben würde. Als ob es kein Wunder wäre, da zu sein, zu leben.
Zugleich gibt es andere, erfüllte Zeiten. Zeiten, die von intensiver Begegnung bestimmt sind: mit anderen, mir selbst, mit Gott. Augenblicke deiner Gegenwart. Jetzt-Zeit. Momente, die es wert sind, in Erinnerung zu bleiben. In Gott aufgehoben zu sein. Die in sich kostbar sind. An die ich mich erinnern möchte. In denen ich – religiös gesprochen – etwas von Gott als Geheimnis meines Lebens spüre. Beim Spielen, Tanzen, Schweigen, Wandern, Lesen, Träumen, Lieben.
2. „Haben, als hätte ich nicht“ – Das ist der Rat, den Paulus gibt, um damit umzugehen, dass das Leben kurz, die Welt vergänglich und die Zeit – meine Zeit – flüchtig ist. „Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die eine Partnerin haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ (1. Kor 7,29-31)
„Haben, als hätte ich nicht“ – das kann distanziert, emotionslos, resignativ klingen. Leben mit gebremstem Schaum. Nach Angst, sich zu binden wegen des drohenden Verlusts. Doch für mich geht es hier um Freiheit und Wahrhaftigkeit. Darum, ganz hier und jetzt zu leben, mit dir – im Wissen darum, dass das Hier und Jetzt und auch unser Wir nicht bleiben. Oder genauer gesagt: dass ich es nicht halten kann, sondern nur darauf hoffen, dass es in Gott geborgen ist. „Haben, als hätte ich nicht“ – das hilft mir, mit der schönen Endlichkeit meines Lebens umzugehen. Mit der Unverfügbarkeit der Liebe. Damit, dass ich die Menschen, die mir lieb und wichtig sind, nicht halten kann.
3. Die Legende vom Ende des Endes – Das ist die große Hoffnung unseres Glaubens: dass das Ende nicht das Ende ist. Dass Gottes Wege auch dort nicht aufhören, wo wir an eine Grenze kommen. Dass der Tod nicht das letzte Wort behält. „It’s just the beginning. It’s not the end.“
Diese Hoffnung ist riskant, gewagt, geradezu abenteuerlich angesichts der harten Realität des Todes. Der Wunsch ist natürlich verständlich. Das Wunder des Lebens, jedes einzelnen Lebens ruft nach Fortsetzung. Denn „alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“, schreibt Nietzsche. Nach Kant ist es geradezu ein Postulat der praktischen Vernunft, eine notwendige Voraussetzung aller Ethik. Es braucht eine ausgleichende Gerechtigkeit, damit Opfer nicht Opfer bleiben und Gewalttäter mit ihrem Unrecht nicht durchkommen. Doch ob sie wahr ist, die „Legende vom Ende des Endes“?
Tatsächlich haben wir für diese Hoffnung keinen anderen Grund als das, was uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Was von uns seit den ersten Zeugen „zu lesen“ ist (das meint Legende): dass Christus auferstanden ist. Dass er dem Tod die Macht genommen hat. Und dass er durch seinen Geist in uns wirkt. Es gehört zum Wesen der Hoffnung, dass sie sich nicht beweisen lässt, sondern dem Augenschein widerspricht. Das gilt insbesondere für die Hoffnung wider den Tod.
4. Was ewig meint – Der Begriff des Ewigen ist in sich vieldeutig. Er kann rein quantitativ verstanden werden: als zeitliche Entgrenzung, als unendliche Verlängerung. Das ist allerdings unterbestimmt und führt zu Problemen, nicht nur zu dem der Langeweile. Mit Woody Allen gesprochen: „Die Ewigkeit dauert lange, vor allem gegen Ende.“
Weiter führt bereits ein qualitatives Verständnis. Was ewig ist, trägt einen anderen Charakter. Es hat einen anderen Klang, eine andere Farbe, einen anderen Geruch. Eine Schönheit in sich, jenseits von Zeit und Raum. Das erfahre ich in dichten Momenten meines Lebens: in Momenten der Liebe und tiefen Begegnung mit anderen. In einer „disclosure situation“ (einem Moment der Offenbarung), wenn sich mir ein Kunstwerk, ein Geheimnis, eine tiefere Erkenntnis erschließt. Doch auch das qualitative Verständnis erfasst das Wesen der Ewigkeit nur begrenzt.
Letztlich geht es um einen kategorialen Unterschied. Um etwas, was in eine andere Denkschublade gehört – jenseits unserer Denkschubladen. Ewig – das meint, dass etwas ganz von Gott bestimmt ist als dem, der alleine ewig ist. Ewig, das ist ein anderes Wort für Gott. Das ist die Hoffnung für all die Menschen, von denen ich Abschied nehmen musste – und einmal werde Abschied nehmen müssen: dass Gottes Liebe ihr Leben ganz umfasst. Dass sie in ihr bewahrt und aufgehoben sind. Dass Gottes Liebe erfüllt, was hier gebrochen, bruchstückhaft begonnen ist.
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Brennende Kerze
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