Über das dünne Eis von damals und das Eis von heute

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Wo liegt Auschwitz? Irgendwo in den Weiten des Ostens, antworten die meisten, wenn sie danach gefragt werden. Ähnlich äußert sich auch der Rechtshistoriker Michael Stolleis in seinem Buch „Nahes Unrecht, fernes Rechts“ auf Seite 57. Er schreibt, die Massentötungen in den Vernichtungslagern hätten „teils in großer Entfernung von der ‚Heimat’“ stattgefunden.

 

In Wirklichkeit lagen Maidanek, Treblinka, Sobibor und Belzec nicht allzu weit weg auf polnischem Boden. Die schlimmste Todesfabrik, Auschwitz, lag nur 30 Kilometer hinter der alten deutschen Reichsgrenze. Am 27. Januar 1945 wurden die Insassen von sowjetischen Soldaten befreit.

 

Seit knapp 20 Jahren wird der 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Es war Bundespräsident Roman Herzog, der den Tag der Befreiung von Auschwitz mit Zustimmung aller Parteien 1996 zum gesetzlichen Gedenktag bestimmte. Inzwischen ist Auschwitz zum bloßen Unrecht herabgestuft worden, vergleichbar der Vertreibung der deutschen Minderheiten aus Polen und der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg. Wer das nicht glaubt, hole sich das Arbeitskonzept der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung auf den Bildschirm.

 

Das inhaltliche Fundament der Stiftung basiert auf einem Geschichtsbild, das die frühere lettische Außenministerin und EU-Kommissarin Sandra Kalniete, 2004 mit den Worten beschrieb, Nazismus und Kommunismus seien „gleich kriminell“ gewesen. Bei einem Besuch der Leipziger Messe sagte sie, es dürfe niemals eine Unterscheidung zwischen beiden Regimen geben, „nur weil die eine Seite auf der Seite der Sieger gestanden hat“. Aus Protest verließ damals Salomon Korn vom Zentralrat der Juden in Deutschland den Saal. Ein anderer, Joachim Gauck zum Beispiel, wäre vermutlich sitzen geblieben. Er hält einen „aufgeklärten Antikommunismus“ für ein Erfordernis zur Verteidigung unserer politischen Kultur.

 

Bereits zwanzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz war die Erinnerung an die Naziverbrechen so gründlich aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, dass niemand Anstoß daran nahm, als Bundespräsident Heinrich Lübke einem wegen Beteiligung an Auschwitz-Verbrechen verurteilten Ruhr-Industriellen als Dank für Verdienste um den Wiederaufbau das Große Bundesverdienstkreuz verlieh – wenige Wochen nach dem Beginn des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main. Was eine antifaschistische deutsche Zeitung dazu schrieb, wurde ignoriert. Es bedurfte des Anrufes einer jüdischen Zeitung aus der Schweiz, um den Beteiligten die Peinlichkeit des Vorgefallenen bewusst zu machen und den Bundespräsidenten zur Rücknahme seiner Fehlentscheidung zu bewegen.

 

Als der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Auschwitz-Prozess Beteiligte an dem Menschheitsverbrechen zur Verantwortung zog und die Deutschen an die Wurzeln des Bösen heranzuführen versuchte, schlugen ihm Hass und Ablehnung entgegen. An ihr Versagen vor dem eigenen Gewissen, an die Preisgabe der Mitmenschlichkeit, wollten insbesondere die so genannten Eliten nicht mehr erinnert werden. Immer noch steht unbeantwortet die Frage des Historikers Per Leo im Raum, warum das feine, kultivierte deutsche Bürgertum den bösartigen Judenhass der Nazis widerstandslos hingenommen hat. „In diesem Land hat sich nicht in Luft aufgelöst, was Hitler möglich gemacht hatte“. Dieser Satz des 1996 verstorbenen Philosoph Hans Blumenberg, entnommen seinem von der katholischen Zeitschrift Communio veröffentlichten letzten Brief, hat nichts von seiner Gültigkeit verloren, auch wenn in diesen Tagen der Erinnerung an die Opfer der Nazibarbarei der gegenteilige Eindruck entsteht. Unter der Oberfläche schwelt das Verlangen nach einem Schlussstrich.

 

In einem Kommentar zu der Forderung des Bundespräsidenten, im Kampf für die Menschenrechte auch zu den Waffen zu greifen, schrieb Constanze von Boullion in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juni 2014, problematischer als das Drumherumgerede sei Gaucks Vision vom Anbrechen einer neuen Zeit. Sie fragte, warum die früher geübte Zurückhaltung jetzt abgelegt werde könne, und antwortete darauf: „Weil das Trauma von Schuld und ‚Nie wieder Krieg’ ins Geschichtsbuch gehört? Gauck sagt es nicht, aber es klingt bei seinen Worten mit: dass irgendwann mal Schluss ist. Das ist der eigentliche Sprengstoff seiner Botschaft. Er sollte ihn schleunigst unschädlich machen.“

 

Der Sprengstoff wurde nicht unschädlich gemacht. Vielleicht sollte Joachim Gauck lesen, was der begnadete Schriftsteller und Rechtswissenschaftler Bernhard Schlink über den Umgang mit unserer Geschichte geschrieben hat: „Anders als die Killing Fields Stalins und Pol Pots sind Holocaust und Drittes Reich Perversionen bürgerlicher Kultur. Wenn damals das Eis, auf dem man sich kulturell und zivilisatorisch sicher wähnte, in Wahrheit so dünn war – wie sicher ist das Eis, auf dem wir heute leben? Was schützt uns vor dem Einbrechen? Die individuelle Moral? Die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen? Ist das Eis mit dem Ablauf der Zeit dicker geworden, oder hat uns der Ablauf der Zeit nur vergessen lassen, wie dünn es ist? Es sind Fragen nach den Grundlagen unserer individuellen moralischen Existenz und unseres gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenlebens.“ (Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Frankfurt am Main 2002, S. 148/154).

 

Kaum ein anderer Tag stellt diese Fragen drängender, als der Tag der Befreiung von Auschwitz.