Serie: ZUM 8. MAI 1945: Kapitulation und Befreiung, Teil 8: Vom deutschen Haß auf Juden und Kommunisten III

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Was von den Behauptungen über kommunistische Drahtzieher zu halten war, zeigte sich nach dem Fall der Mauer. Die Anschläge auf jüdische Einrichtungen gingen unvermindert weiter und die fremdenfeindlichen Gewaltakte erreichten nie gekannte Ausmaße. Die Gefahr des Rechtsextremismus sei "derzeit ohne Zweifel höher einzuschätzen" als früher, erklärte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Eckart Werthebach.

 

1991 ereigneten sich nach offizieller Darstellung nicht weniger als 2 285 rechtsextremistische Gewalttaten, bei denen siebzehn Menschen ums Leben kamen. Im Jahr 2007 wurde in Deutschland nach Angaben der Bundesregierung im Schnitt jede Woche ein jüdischer Friedhof geschändet. Ganz offensichtlich rächt sich jetzt, dass Warnungen vor einem Wiederaufleben des Neonazismus immer wieder als Panikmache oder kommunistische Zweckpropaganda abgetan worden sind.

 

Wie zynisch mitunter die Ängste jüdischer Bürger ignoriert wurden, zeigt die Reaktion eines Staatsanwaltes in Münster, der 1966 einer Strafanzeige wegen anonymer Drohanrufe nachgehen musste. Opfer des Telefonterrors war ein jüdischer Geschäftsmann, der die NS-Zeit nur dank der Hilfsbereitschaft münsterländischer Bauern überlebt hat, die ihn und seine Frau Marga sowie die Tochter versteckten. Die Eltern von Siegmund und Marga Spiegel starben in den Gaskammern der Nazis.[17] Urheber der anonymen Anrufe war ein Polizeihauptwachtmeister aus der Nachbarschaft, der während seiner Vernehmung gestand, unter anderem geäußert zu haben: "In zehn Minuten bist Du reif, Du Judenschwein." Gleichwohl kam der Staatsanwalt zu dem Schluss, dass hier "mit Sicherheit kein Antisemitismus" vorgelegen habe. (AP 16. 9. 1966)

 

Auch die in München erscheinende "Deutsche Nationalzeitung", von der der SPD-Abgeordnete Adolf Arndt einst im Bundestag sagte, sie spreche "die Sprache der potentiellen Mörder", profitierte von der Einäugigkeit der Justiz. Triumphierend teilte der Herausgeber des Blattes, Gerhard Frey, den Zeitungsredaktionen im Oktober 1980 mit, dass soeben das 500. Strafverfahren gegen ihn ohne Ergebnis zu Ende gegangen sei. Ob Frey in den Folgejahren jemals belangt worden ist, ließ sich nicht ermitteln. Ausweichend antwortete das Bundesjustizministerium auf eine entsprechende Anfrage, die Beobachtung des Rechtsextremismus sei Aufgabe des Verfassungsschutzes. Ob der weiterhelfen könne, sei allerdings zu bezweifeln, "da es sich bei derlei Auskünften um personenbezogene Daten handelt." [18] Seinen vermutlich größten Erfolg konnte Frey 1974 verbuchen, als das Bundesverfassungsgericht nach fünfjähriger Verfahrensdauer einen Antrag von Bundesinnenminister Ernst Benda (CDU) zurückwies, dem Herausgeber der "Nationalzeitung" das Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit abzuerkennen. Benda hatte 1969 zur Begründung erklärt, Frey sei verantwortlich für nationalistische, antisemitische und rassistische Veröffentlichungen und missbrauche dieses Grundrecht zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.

 

Dass der Herausgeber des Hetzblattes ungeschoren blieb, verdankte er - wie die Wochenzeitung "Die Zeit" am 11. Februar 1994 enthüllte - einem Gutachten des Rechtswissenschaftlers und CSU-Mitglieds Theodor Maunz, der während der NS-Zeit mit seinen Arbeiten dem Unrechtsregime der Nationalsozialisten den Schein der Legitimität zu verschaffen suchte. Im Deutschland der Nachkriegszeit führte er als zeitweiliger bayerischer Kultusminister und Mitverfasser des Standardkommentars zum Grundgesetz eine Art Doppelleben. Nach seinem Tod im Jahr 1993 wurde nämlich bekannt, dass Theodor Maunz, der nach außen hin als Verteidiger der freiheitlich demokratischen Grundordnung auftrat, heimlich Mitstreiter und Vertrauter eines der schlimmsten Verächter dieser demokratischen Grundordnung war. Im Nachruf der "Nationalzeitung" hieß es, der Herausgeber des Blattes habe mit Maunz "seinen wunderbaren Wegbegleiter" verloren. Ein Vierteljahrhundert sei Maunz maßgeblicher Berater von Dr. Frey gewesen. Eineinhalb Jahrzehnte hindurch habe er beinahe allwöchentlich seine "hervorragenden politischen Beiträge" ohne Autorenangabe in der "Nationalzeitung" veröffentlicht.

 

Ausschlaggebend für die Abweisung des Antrags auf Aberkennung der Grundrechte für Frey war letzten Endes die Untätigkeit des Amtsnachfolgers von Ernst Benda, Hans-Dietrich Genscher (FDP). Das Bundesverfassungsgericht begründete die Einstellung des Verfahrens gegen Frey ausdrücklich mit dem Hinweis, die Bundesregierung habe im Verlauf mehrerer Jahre nicht auf dessen Einlassungen reagiert. Insbesondere habe sie nicht dargetan, ob Frey in Zukunft eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstelle. So konnte der Münchner Verleger seine publizistische Tätigkeit nicht nur ungehindert fortsetzen, sondern darüber hinaus durch die Gründung der Deutschen Volksunion (DVU) eine weitere Front gegen die seiner Meinung nach zu lasch auftretenden Systemparteien errichten. Eine Auflösung durch die Behörden Verbot braucht die DVU offenbar ebenso wenig zu fürchten wie die NPD, deren Verbot beim letzten Versuch daran scheiterte, dass Regierung, Bundestag und Bundesrat sich weigerten, die Namen der inoffiziellen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in den Führungsetagen der NPD bekannt zu geben. Der Versuch mehrerer Innenminister- und Senatoren der SPD, durch die Vorlage einer Dokumentation mit einschlägigen Äußerungen ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD in Gang zu setzen, wurde von der Bundesregierung als "unseriös" zurückgewiesen. Der Bundestag seinerseits weigerte sich, 175 000 Unterschriften für ein NPD-Verbot, die die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (Bund der Antifaschisten) gesammelt hatte, entgegen zu nehmen.

 

Die bisherige Unfähigkeit des Rechtsstaates, einer im Verdacht der Verfassungswidrigkeit stehenden rechtsradikale Partei durch ein Verbot Paroli zu bieten, macht alle Bekundungen des Abscheus gegenüber dem Rechtsextremismus zur Farce. Sie desavouiert die Erinnerungsarbeit all derer, die sich an örtlichen Initiativen zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit beteiligen. Offizielle Gedenkveranstaltungen zu Ehren der Opfer des NS-Regimes, die das eigene Versagen ausblenden, helfen diesen Menschen nicht weiter, wenn sie zum Beispiel danach fragen, weshalb sich nur knapp zwei Prozent der 10. 222 staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, die 1963 wegen politischer Delikte eingeleitet wurden, gegen Rechtsradikale richteten.[19] Oder wenn sie wissen wollen, was den Bundesgerichtshof in seinem Freispruch für den SS-Richter Thorbeck zu der Aussage bewogen hat, der nationalsozialistische Staat habe wie jeder andere das Recht auf Selbstbehauptung und auf den Erlass strenger Gesetze gehabt, denen sich jeder Richter habe unterwerfen müssen.[20] Im Prozess gegen den DDR-Richter Reinwarth war davon mit keinem Wort mehr die Rede. Der DDR wurde das Recht auf Selbstbehauptung nicht zuerkannt und dem ehemaligen DDR-Richter wurde nicht zugute gehalten, dass die bestehenden Gesetze für ihn bindend waren. Dass ihm das Ganze "kaum als gerecht zu vermitteln" sei, räumte der Bundesgerichtshof immerhin ein, obwohl er sich damit selbst als Instrument der Staatsräson und des Machterhalts bloßstellte. (AZ 5 StR/747/94).

 

Natürlich sind in der DDR schlimme Dinge passiert. Aber sie hat weder den zweiten Weltkrieg mit seinen 55 Millionen Toten zu verantworten noch den Mord an sechs Millionen Juden. Dennoch wurde zum Beispiel bei der Übernahme ehemaliger DDR-Diplomaten ein anderer Maßstab angelegt, als seinerzeit bei der Übernahme ehemaliger Mitglieder der NSDAP. Der Anteil ehemaliger DDR-Diplomaten im höheren Dienst des Auswärtigen Amtes belief sich 2006 auf etwa ein Prozent.[21] Dagegen betrug der Anteil ehemaliger Mitglieder der Nazipartei im höheren Dienst des Auswärtigen Amtes in den Anfangsjahren der Bundesrepublik 65 Prozent.[22] Wer bei der Aufarbeitung der Vergangenheit so unverhohlen mit zweierlei Maß misst, wer die Verantwortlichen für die 136 Todesopfer des „Grenzregimes“ der DDR in eine Reihe stellt mit den Verantwortlichen für den Mord an sechs Millionen Juden, wer das eine Unrecht mit dem anderen vermengt oder aufzurechnen versucht, wer gedankenlos von "den zwei deutschen Diktaturen" spricht, verharmlost auf unerträgliche Weise die Verbrechen, die während der Nazizeit verübt worden sind.. Eine schlimmere Verhöhnung der Opfer des NS- Regimes, eine schlimmere Bagatellisierung des Antisemitismus kann es nicht geben, einen schlimmeren Alptraum können Überlebende des Holocaust nicht träumen.

 

Nach statistischen Berechnungen der Jewish Claims Conferenz gibt es weltweit noch 516.700 Holocaust-Überlebende, von denen 259.000 unter der Armutsgrenze leben. Von Unterricht und Ausbildung ausgeschlossen, traumatisiert von Ghetto- oder KZ-Haft und oft auch vom Verlust der ganzen Familie gelang es vielen Überlebenden nicht, sich nach dem Krieg eine eigene Existenz aufzubauen. Bei den Entschädigungszahlungen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik wurde diese Problematik kaum bedacht.[23] Welche Bedeutung würden die Deutschen der Hilfe für diese Notleidenden wohl beimessen, wenn sie, ähnlich wie 1951, danach gefragt würden? Die Ergebnisse einer Allbus-Umfrage aus dem Jahr 2006 stimmen nicht sonderlich optimistisch. 31 Prozent der Befragten erklärten: "Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen." 59 Prozent erklärten: "Es wird Zeit, dass unter die nationalsozialistische Vergangenheit ein Schlussstrich gezogen wird." [24]

 

 

Anmerkungen:

 

[17] Marga Spiegel, Retter in der Nacht, Röderberg Verlag, 1969; Vorwort Prälat Dr. Hermann Maas. 2009 wurde die Geschichte mir Veronika Verres und Armin Rohde in den Hauptrollen verfilmt

 

[18] Schreiben vom 8. April 2009.

 

[19] Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1978, S. 237. Ergänzend: Gössner, R. Die vergessenen Justizopfer des kalten Krieges, Aufbau Verlag, berlin.

 

[20] Jörg Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek, 1983, S. 218

 

[21] Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 9. 3. 2006 an den Verfasser.

 

[22] Hans-Jürgen Döscher, Seilschaften - Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes, Propyläen Verlag/ Ulstein 2005, S. 103 f.

 

[23] Robert Probst und Oliver Bilger: Traurige Bilanz am Gedenktag, SZ 27. Januar 2010.

 

[24] Elke Hennig, Zur politischen Soziologie eines historischen Deutungsmusters, Einsicht 02, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, S. 43.

 

Foto:

Grundsätzlich drucken wir nicht gerne Fotos von Tätern ab, denn den sollen nicht die Genugtuung widerfahren, auch noch im Bild verewigt zu werden. Darum wird auch Theodor Maunz hier nicht gezeigt. Den muß man sich im Bild nicht merken. Anders sieht es mit dem ersten Bundeskanzler Konrad Andenauer aus. Der, kein Faschist, bestellte von 1953 bis 1963 Hans Globke zu seinem Chef des Bundeskanzleramtes. Dieser Globke war ein besonders scharfer Nazi-Jurist und war Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze. Das prädestinierte ihn in Adenauers und anderer Augen für diese herausgehobene staatliche Aufgabe, weshalb er sozusagen als Paradebeispiel für die Kontinuität von maßgeblichen Herren aus der Nazizeit in die junge Bundesrepublik gilt.

 

Auch hier ist Fritz Bauer, Hessischer Generalstaaatsanwalt,  zu erwähnen, der als einer der wenigen laut seine Stimme erhob und einen Prozeß gegen Globke anstrengte, aber keine Zuständigkeit erhielt. Das einzig Gute war, daß im In- und Ausland die Kritik an der personellen Kontinuität der Nazis in der Verwaltung der Bundesrepublik nicht nachließ und nach und nach immer wieder Altnazis zurücktreten mußten oder - seltener - freiwillig das Feld räumten.

 

 

INFO:

 

(Der Aufsatz erschien 2010 gekürzt unter der Überschrift „Der braune Faden“ in der Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 4, S. 105.)