Serie: 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess. Ein anteilnehmender Journalist berichtet.Teil 1/5

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) -

Die Deutschen lieben die Wahrheit nicht,

wollen sie nicht wissen, kennen nicht ihren Reiz und ihre reinigende Kraft.

Thomas Mann an Hermann Hesse (12. 10. 1946 )

 

In seiner Rede zum 50. Jahrestag des Bestehens der deutsch-israelischen Beziehungen sagte Bundespräsident Joachim Gauck am 12. Mai 2015: „Wir werden nicht zulassen, dass das Wissen um die besondere historische Verantwortung Deutschlands verblasst.“ Sonderlich erfolgreich waren die politisch Verantwortlichen damit offenbar nicht. Einer Bertelsmann-Studie zufolge möchten 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“. (SZ 12. 5. 2015, S. 6). Offensichtlich gibt es in der deutschen Erinnerungskultur eine Lücke. „Man übergeht, dass es den deutschen Widerstand gab“, klagte der deutsch-französische Historiker Alfred Grosser am 70. Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus im Interview mit einer deutschen Zeitung. (Weser-Kurier, 8. 5. 2015).

 

Dabei waren die Angehörigen des deutschen Widerstandes mit ihren „moralischen Grundentscheidungen“ vielen anderen voraus, konstatierte Willy Brand ein Jahr vor seinem Tod. Winston Churchill erinnerte 1947 daran, dass in Deutschland eine Opposition lebte, „die zu dem Edelsten gehört, was in der Geschichte der Völker je hervorgebracht worden ist. Diese Männer und Frauen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig angetrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Ihre Taten sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaus.“

 

Vielleicht sollten in allen deutschen Schulen, dem französischen Beispiel folgend, einmal im Jahr Bekenntnisse deutscher Widerstandskämpfer verlesen werden, um etwas von dem Geist zu vermittelten, der die Gegner der Nazityrannei beseelte. „Wie wir der Luft bedürfen, um zu atmen, des Lichts, um zu sehen, so bedürfen wir edler Menschen, um zu leben“, sagte die Schriftstellerin Ricarda Huch im Gedenken an die ermordeten deutschen Widerstandskämpfer. „Sie reißen uns aus dem Sumpf des Alltäglichen; sie entzünden uns zum Kampf gegen das Schlechte.“

 

Eine der Erfahrungen des deutschen Widerstandes besagt, dass die Ausgrenzung von Minderheiten niemals geduldet werden darf; denn damit begann das, was mit Auschwitz endete. Wer sich ein Bild vom Ausmaß des Verbrechens machen will, das in Auschwitz begangen worden ist, der möge sich daran erinnern, dass bei der Tsunami-Katastrophe in Ostasien mehr als 200 000 Menschen dem blinden Wüten der Naturgewalt zum Opfer gefallen sind. Das Entsetzen darüber war groß. Allein in Auschwitz wurden fünfmal soviel Menschen ermordet. Einige Beteiligte an dem beispiellosen Verbrechen mussten sich Anfang der 1960er Jahre in Frankfurt am Main vor Gericht verantworten. Die Verkündung des Urteils in dem Jahrhundertverfahren jährt sich heute am 19. August zum 50. Male. Ich habe den Prozess als Journalist miterlebt.

 

Wie es zu dem Massenmord kommen konnte, wie alles begonnen hat, damals in Deutschland, ist vor allem jungen Menschen weitgehend unbekannt. Manches sah zunächst harmlos aus. Auch damals bekämpften Rechtsextremisten und Nationalkonservative den demokratischen Rechtsstaat zunächst nur mit Worten. Schamlos beuteten sie die Not von Millionen Arbeitslosen für ihre Propagandazwecke aus. Zugleich entfachten sie eine Hetzkampagne gegen die vermeintlich Schuldigen an der deutschen Niederlage im ersten Weltkrieg. Zielscheibe der Verleumdungen waren Juden, Marxisten und Intellektuelle, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und bürgerlich-liberale Politiker, die als undeutsch und national unzuverlässig hingestellt wurden.

 

Wer sich mit den Anfängen der Naziherrschaft vertraut macht, wird die Warnzeichen für neues Unheil rechtzeitig erkennen. Wer weiß, was in Auschwitz geschah, ist für immer gefeit gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit Nazi-Ungeist zu tun hat. Ohne Erinnerung an das Böse, so Bundespräsident Roman Herzog 1996, gibt es weder die Überwindung des Bösen, noch Lehren für die Zukunft. Dass Angehörige eines Kulturvolkes in der Mitte Europas Menschen fabrikmäßig töteten, dass sie Schlachthäuser für Menschen errichteten, darüber werden noch in hundert Jahren Menschen in aller Welt grübeln.

 

Wenn von den Gräueltaten der Nazis die Rede ist, antworten manche, Verbrechen habe es auch anderswo gegeben. Das stimmt, aber niemals und nirgendwo sonst wurden völlig schuldlose Menschen so systematisch und mit industrieller Perfektion getötet wie in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern, nirgendwo sonst wurden den Ermordeten die Goldzähne ausgerissen und zur Devisenbeschaffung eingeschmolzen, nirgendwo sonst wurden die Haare der Opfer als Material zur Filzherstellung verwendet. Lange Zeit wurde Auschwitz in den endlosen Weiten des Ostens vermutet, und nicht wenige entschuldigten ihr Unwissen mitunter gerade damit. Tatsächlich lag Auschwitz nur 40 Kilometer hinter der alten deutschen Grenze, aber einer der akademisch gebildeten Mörder fühlte sich dort - wie er nach Hause schrieb - am anus mundi, am Arsch der Welt. Fortsetzung folgt.