6m agerichmarthaMARTHA – ARGERICH – FESTIVAL HAMBURG im Juni, Teil 3/3

Wolfgang Mielke

Weltexpresso. (Hamburg) - Es gibt Konzerte von unglaublicher Spannung. Wo Spannung fehlt, rutscht man in Gedanken weg, zu den Dingen, die einen sonst beschäftigen, oder es meldet sich sofort Müdigkeit. Natalia Levi-Ginzburg (1916 – 1991) schreibt darüber, wie oft sie während Konzerten eingeschlafen sei. Natürlich immer dann, wenn die Spannung wegbleibt – und die Langeweile, jedenfalls des Zuhörenden, einsetzt.

So geht es auch mir häufig in Konzerten. Und die bürgerliche Scham, man verhalte sich falsch, muss man dabei überwinden lernen! Denn das Gegenteil trifft zu: Wird man müde, wird die ausgeübte Kunst zum Energie-Fresser, statt dass sie Energie verströmt, wie es ihre Aufgabe wäre, verhält man sich als Müde-Werdender nicht falsch! Im Gegenteil! Das Aufkommen von Müdigkeit ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass auf der Bühne nicht spannungsreich genug gearbeitet wird; sondern - im Extremfall – eine Sache, sei es aus mangelndem Können, sei es aus Lustlosigkeit oder aus welchem Grund auch immer, nur heruntergespielt wird. (Man friert, wenn der Ofen nicht oder zu wenig heizt.)

Der Schauspieler Uwe Friedrichsen (1934 - 2016) hat erzählt, dass Gustaf Gründgens (1899 – 1963) ihm in seiner berühmten "Faust"-Inszenierung, wenn er selbst nicht intensiv genug spielte, manchmal die verabredete Ohrfeige mit einer solchen Wucht gab, das er meinte, sein Kopf fliege ihm weg – und danach mit einer ungeheuren Wut und Energie gespielt habe. Er brauchte eine Zeitlang, um zu verstehen, dass er Ohrfeigen in einer solchen Stärke immer dann erntete, wenn er seinen Partner langweilte – und dadurch letztlich als Partner mißachtete.  Partner ist aber nicht nur der jeweilige Mitspieler auf der Bühne, sondern auch immer das Publikum.

Den Auftakt des Konzertes am 28.6.2019 bilden fünf relativ kurze Konzertstücke Maurice Ravels (1875 – 1937) unter dem Titel "Ma mère l'oye" (= "Meine Mutter, die Gans"); #"reizende Themen in zauberhaftem Klanggewand"#, wie es in Gerhart von Westermans (1894 - 1963) und Karl Schumanns (1925 - 2007) berühmtem "Knaurs Konzertführer" (1951) heißt. Ursprünglich waren das fünf Klavier-Duette. Sie wurden, umgearbeitet zu einer Orchester-Ballettmusik, ebenfalls in einem Juni, und zwar am 8.6.1912, in Paris im Théâtre du Châtelet uraufgeführt – und wurden ein Mißerfolg. Das wäre auch nun in Hamburg ihr Schicksal gewesen.

Zu sagen, der Dirigent dieses Konzerts, Charles Dutoit (*1936), gehöre ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten zur Martha-Argerich-Mannschaft, wäre eine deutliche Untertreibung: Dutoit war von 1969 – 1973 mit Martha Argerich verheiratet. Es spricht für sie und nach wie vor für eine gute Beziehung zwischen den beiden, dass Charles Dutoit der Dirigent dieses Abends sein konnte. Denn Dutoit gehört zu den seit Herbst 2017 Beschuldigten der #MeToo—Debatte. Mehrere bedeutende Orchester haben deswegen die Zusammenarbeit mit ihm aufgekündigt. - Das lese ich allerdings erst nachträglich; ebenso, dass Dutoit bald 83 Jahre alt ist, was man ihm, jedenfalls vom Zuschauerraum aus, nicht ansieht.

Der Ravel war müde und schwach; schon mit dem ersten Einsetzen. - Eine Pavane, - so das erste der fünf Stücke -, #muss# nicht langweilig sein! - Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass Jon Lord (1941 – 2012) von Deep Purple, der sich selbst einmal als "musikalische Elster" bezeichnete, mehrfach eine Pavane von Ravel, sei es auf "Sarabande" (1975), sei es auf "Before I forget" (1982), verwendet hat. Eine Frau ,schräg hinter mir, höre ich zu ihrem Mann sagen: #"Es ist langweilig."#  Der Dirigent, den ich das erste Mal bewusst gesehen habe, wirkt, vielleicht, wie ein pensionierte Lehrer, jedenfalls müde. Erst der erste Geiger reißt gegen Ende mit einem scharfen metallischen Ton einiges raus; aber es bleibt unbefriedigend. 

Umbau: Es wird umarrangiert. Vor allem muss Platz für den großen Konzertflügel geräumt werden. Das Hauptstück des Abends ist Tschaikowskys (1840 – 1893) Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll, op. 23. Im Wikipedia-Eintrag über Martha Argerich liest man, ihre Interpretation dieses Konzertes sei #"mittlerweile legendär"#. - Man kann also einiges erwarten! - Der Anfang gelingt sehr gut; dann versandet, versiegt es: Das Klavierspiel von Martha Argerich. Sonderbar. Das Klavier wird teils geradezu zum Störfaktor. Sonderbar. Das Orchester indessen spielt so gut, so großartig, so wunderartig rein, wie ich es seit Sir Jeffrey Tate's Tod nicht wieder gehört habe!

Aus den Notizen: #"Das Orchester ist sehr gut! Das Zusammenspiel mit M. A. weitgehend ungenügend. Beide Halbteile rauben sich gegenseitig Energie. Folge: Man wird sofort müde. M. A. auch nicht immer textsicher. Hat das Konzert vielleicht zu oft gespielt. Abgespielt. M. A. bleibt – und sie merkt es selbst – hinter dem Orchester zurück."#

Doch dann, im zweiten, langsamen Satz geschieht etwas Merkwürdiges. - Notiz: #"Wie eine Kräuterhexe in ihrem Garten (Kräuterfee)."# - Sie spielt vor sich hin. Hat sich längst vom Orchester abgewendet. Sucht. Baut auf. Die Sprache ist ja laut Johann-Gottfried Herder (1744 – 1803) nicht nur Instrument zum Bezeichnen von Dingen, sondern auch gleichzeitig Erkenntnis-Instrument. Die Erkenntnis kann natürlich auch oft erst verzögert auftreten, steht aber dann immer noch in Bezug auf das Wort, die Bezeichnung, Bemerkung, Äußerung. ((Ich beschrieb einmal einen Mann als "blutleer"; er starb viele Jahre später an innerer Verblutung.)) So auch hier: Martha Argerich braut etwas zusammen; oder pflanzt wunderwirksame Kräuter auf das Beet ihrer Tastatur. Und dann löst sie das aus, was man ähnlich in Franz Kafkas (1883 – 1924) Roman "Der Prozess" (1914/15) folgendermaßen nachlesen kann: #"(...) bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich zum Bewusstsein. Es war nichts Heldenhaftes, wenn er widerstand, wenn er jetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch den letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte. Er setzte sich in Gang, und von der Freude, die er dadurch den Herren machte, ging noch etwas auf ihn selbst über. Sie duldeten es jetzt, dass er die Wegrichtung bestimmte, und er (...) zog (...) mit Macht die Herren vorwärts (...) die Herren mussten trotz großer Atemnot auch mit laufen."#

Dieser Lauf war grandios! Martha Argerich folgte nicht dem so großartig und rein spielenden Orchester – jedes Orchester ist auch immer nur so gut wie sein Dirigent, der hier ebenfalls all seine Müdigkeit verloren hatte -; das wäre ihr vielleicht auch gar nicht gemäß; sie holte es also nicht ein, überholte es nicht, setzte sich nicht auf diese Weise an die Spitze, sondern braute etwas anderes zusammen: Schuf einen anderen, ihr, ihr selbst entsprechenden Rhythmus und verstärkte ihr Spiel; ließ sich nicht beirren – und beirrte so das Orchester, das seine eigene Reinheit verlor – und nun sich ihr anbequemen, sich ihr unterordnen, #ihr# folgen musste.

Sie setzte sich an die Spitze, indem sie sich einen eigenen Sonderweg bereitete, den sie selbstverständlich auch anführte – bis zu seiner fanfarenhaften, grandiosen Höhe!

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