Anja Silja 2012Unvergessen als herausragende und mutige Sopranistin ihrer Zeit 

Kirsten Liese

Berlin (Weltexpresso) - Zuletzt sah ich sie 2014 auf der Bühne. In einer Produktion der Oper Frankfurt verkörperte Anja Silja die Mumie in Aribert Reimanns  Gespenstersonate nach dem gleichnamigen Kammerspiel von August Strindberg. Aus einer kleinen Rolle wurde da eine ganz große, mit starker Bühnenpräsenz demaskierte die grandiose Sängerdarstellerin eine in Lebenslügen gefangene Gesellschaft. Es war die letzte unter zahlreichen Charakterrollen, die Jahrzehnte zuvor schon ihre Kollegin Martha Mödl auf ihre alten Tage gesungen hatte, die ihr noch fehlte.

Die gebürtige Berlinerin Silja ist in jeder Hinsicht eine Ausnahmesängerin. Dies allein schon im Hinblick auf ihre singuläre lange Karriere von mehr als 55 Jahren (!) und dem Umstand, dass sie dank ihrer guten Technik schon in jungem Alter in der Lage war, hoch anspruchsvolle Partien wie Brünnhilde, Königin der Nacht, Isolde,  Salome und Elektra zu meistern.  Kaum ein Kritiker, der  in den 1960er Jahren streng mit ihr ins Gericht ging, wenn sie einmal -  bedingt durch die physischen Anstrengungen, eine Spur zu tief oder eben nicht so vollendet sang wie eine Birgit Nilsson -   hätte das wohl für möglich gehalten. Einige prophezeiten ihr das rasche Ende ihrer Laufbahn. Und sollten sich gewaltig täuschen: Allein mit Wieland Wagner, ihrem Mentor, Liebhaber und Freund, erarbeitete sie in nur fünfeinhalb Jahren 36 (!) Inszenierungen. „Das wird es auf der Welt nicht wieder geben. Die Kraft lag in der Beziehung - für keinen anderen Regisseur auf der Welt hätte ich das gemacht“, sagte sie mir bei einer unserer persönlichen Begegnungen anlässlich der Vorbereitungen zu meinem Büchlein „Wagnerheldinnen“.

Gerade jetzt, wo viele Opernhäuser ihre Archive öffnen und kostbare historische Mitschnitte zeigen, wäre es natürlich toll, wenn sich von den damaligen Produktionen, etwa aus Rom, Neapel, Köln oder Berlin Aufzeichnungen finden würden. Meines Wissens gibt es aber aus diesen Jahren mit ihr keine kompletten Aufzeichnungen, nur einige kurze Videoschnipsel in schlechter Auflösung auf Youtube. Aber darüber bekommt man eine Ahnung davon, was für eine umwerfende Sängerdarstellerin die junge Silja gewesen sein muss.

Und was für Maßstäbe setzte sie später noch mit ihren zutiefst aufwühlenden, grandiosen Janacek-Interpretationen und Charakterrollen! In denen konnte ich sie zum Glück noch auf der Bühne erleben: gleich zwei Mal als Küsterin in  Jenufa an der Oper Frankfurt in den 1990er Jahren und 2002 noch einmal in der Übernahme vom Glyndebourne-Festival in der Deutschen Oper Berlin, als Mère Marie in Poulencs  Dialogen der Karmeliterinnen in Hamburg, als Emilia Marty in  Die Sache Makropoulos in einer weiteren Glyndebourne-Übernahme der Deutschen Oper Berlin 2004. Später dann noch als Gräfin in Tschaikowskys  Pique Dame an der Komischen Oper Berlin 2009 und als Großmutter in Prokofjews Spieler  in Frankfurt 2013.

Nie zuvor hatte mich eine Küsterin vergleichbar tief bewegt.  Das lag vor allem daran, dass es Silja gelang, die Figur nicht als eine gefühlskalte Person erscheinen zu lassen, sondern als eine mit schweren Gewissenskonflikten, die mit dem Mord an Jenufas unehelichem Kind eine Verzweiflungstat begeht.

Unvergessen bleibt freilich ebenso jene Figur, die ihr selbst am allernächsten stand:  Emilia Marty, die, von einem Elixier künstlich am Leben gehalten,  327 Jahre alt ist und nur an ihre einzige große Liebe vor 300 Jahren zurückdenkt. Da gab es natürlich Verbindungen zu der eigenen unfassbar langen Karriere als Sängerin und Erinnerungen an eigene lang zurückliegende  Liebesbeziehungen  mit Wieland Wagner oder auch dem Dirigenten André Cluytens, die sie beide schon viele Jahrzehnte überlebt hat.

Für Interviews und Gespräche durfte ich Anja Silja ebenfalls mehrfach treffen, zuletzt 2012. Damals hatte sie gerade ihre Wohnung in Paris aufgelöst und eine herrliche, mehrstöckige, geräumige Maisonette- Wohnung in Wolfenbüttel bezogen. Die Wohnung befand sich im obersten Stock, und eine kleine Stiege führte auf das Dach zu einer schönen Aussichtsplattform und Terrasse.

Der Zufall will es, dass mir Wolfenbüttel seit langem sehr vertraut ist, und das nicht nur dank der prächtigen, bekannten Herzog-August-Bibliothek, die ich mehrfach besuchte. Vielmehr verbrachte ich in einer nahe gelegenen kleinen Ortschaft, in der meine Eltern ein Ferienhaus unterhalten,  in den Sommermonaten oftmals mehrere Wochen meiner Kindheit. Von dort aus machte  ich mich auf den Weg zu ihr. Die Grande Dame hatte mir einige schöne Fotos herausgesucht und widmete mir und meinem Vater, der mich begleitete, noch etwas Zeit bei Tee und Kuchen.

Dass sie heute 80 wird, kann ich kaum glauben. Möge sie die Corona-Zeiten gut überstehen. Herzlichen Glückwunsch!

Foto:
© K.L.