Das begehrte Handelsgut TUCH in Nordfrankreich
 
Suse Rabel-Harbering


Frankfurt am Main  (Weltexpresso) - Schon im Mittelalter war die Textilherstellung in Nordfrankreich verbreitet. Flandern, damals noch französische Provinz, und Oberitalien bildeten die Zentren der europäischen Tuchherstellung. Tuch galt als begehrtes Handelsgut gegen Seide und Gewürze aus dem Orient.

Seine Blüte erreichte der Wirtschaftszweig im 19. Jahrhundert und bescherte der Region, insbesondere den Städten Roubaix, Tournai und Lille Reichtum und Wohlstand. Allein in Roubaix gab es 200 Fabriken und die notwendigen Arbeitskräfte heuerte man aus dem benachbarten Belgien an. So entstanden im Umkreis der Fabriken Arbeitersiedlungen. Über die damals als fortschrittlich geltende Wohnsituation der „Courées“ hinaus, dachte man auch an das Wohl der arbeitenden Bevölkerung. So ließ Bürgermeister Jean-Baptiste Lebas zur Verbesserung der Hygiene und auch zur sportlichen Betätigung in den zwanziger Jahren ein Hallenbad sowie öffentliche Wannenbäder errichten.



In trockenen Tüchern

Bevor wir uns dem Badespaß zuwenden, wollen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen und schauen, wer damals die Fäden gezogen und zu bunten Stoffbahnen verwoben hat. In der Manufacture des Flandres, einer ehemaligen Weberei erläutert Marie-Chantal die einzelnen Etappen der Tuchherstellung. „Folgen sie mir“, sagt sie in akzentfreiem Deutsch, drückt auf einen Knopf einer Webmaschine und schon hüpfen und tanzen bunte Fäden und Garne unter ohrenbetäubendem Lärm vor und zurück und lassen sich durch Lochkarten den Weg zu phantasievollen Mustern weisen.

Das Verfahren entwickelte im 19. Jahrhundert Joseph-Marie Jacquard, Sohn eines Webers aus Lyon. Damit können großflächige Musterungen direkt in den Stoff eingewoben werden. Jacquardstoffe werden gern für Tischwäsche und auch Polsterbezüge verwendet und erfreuen sich in Frankreich immer noch großer Beliebtheit. Wenngleich durch Billigimporte aus Asien die Textilproduktion in Nordfrankreich empfindliche Einbußen erlitten hat, gelang es doch einigen Unternehmen sich zu modernisieren und innovative Stoffe und Fasern für industrielle Zwecke zu entwickeln.

Im Maison de Modes, einer ebenfalls restaurierten Weberei, schart sich in einzelnen Ateliers eine Gruppe junger Modedesigner mit zukunftsorientierten Visionen, nämlich bezahlbare Mode als Alternative zu billiger Konfektion zu entwerfen. Wir lassen uns von André Sorants Tüchern und Schals aus Seide mit graphischem oder auch floralem Muster inspirieren. Sie betont, dass ihr zeitloses Design wichtig sei, so dass die Teile an die jüngere Generation weitergegeben werden können, ein mutiges Vorhaben in Zeiten der Wegwerfgesellschaft, wie wir finden. Dann hat sie noch einen anderen Gag parat. Er heißt „Col Claude“. Das Accessoire lässt sich anstelle einer Fliege oder einer Krawatte tragen. Besonders keck wirkt es, einfach nur um den Hals gebunden.



Auf dem Weg zur Spitze


In Caudry, einem kleinen Ort südlich von Lille, hat man sich auf eine ganz andere Stoffart spezialisiert, und zwar auf Spitze. Schon die höfische Gesellschaft war von dem filigranen Gewebe, das ursprünglich aus Italien stammt, fasziniert. Da es jedoch teuer war, der Bedarf dennoch ständig zunahm, ließ Ludwig XIV Spitzennäherinnen aus Venedig kommen, die ihre Kenntnisse in Frankreich verbreiten sollten. Doch auch in diesem Bereich übernahmen schließlich Tüll- und Spitzenmaschinen die Herstellung.

Dennoch findet man in Caudry Ateliers, in denen von Hand das kostbare Material zusätzlich mit Perlen und Pailletten bestickt oder mit Gold- oder Silberfäden durch wirkt wird. Viele Designer der Haute Couture schwören auf die Spitze aus Caudry, sie sei die schönste der Welt, heißt es. Das Urteil kann so falsch nicht sein, denn aus Caudry kam die Spitze für das Hochzeitskleid von Kate Middleton, der Herzogin von Kent.



Art-Deco und Industriearchitektur


Weg von fließenden Stoffen wollen wir uns noch einigen architektonischen Höhepunkten des Art-Deco-Stils und der Industriearchitektur zuwenden. Das einstige Hallenbad „La Piscine“ wurde restauriert und zu einem Museum umgewandelt. Dabei blieb das ursprüngliche große Schwimmbecken erhalten mitsamt den kunstvoll gestalteten Wellenlinien am Beckenrand, eine Hommage an den japanischen Maler Hokusai. Ein weiteres japanisches Stilelement stellen die verglasten Rundbögen an den Stirnseiten dar, die sich auffächern und das Tageslicht honiggelb filtern. Neben einer Gemälde- und Skulpturensammlung birgt das Museum eine Textilbibliothek, in der Stoffmuster und Entwürfe archiviert werden.

Auch die Villa Cavrois aus dem Jahr 1932 des ehemaligen Textilfabrikanten Paul Cavrois in Croix, einem Vorort von Roubaix, zählt zu einer Trouvaille des Art- Deco-Stils. Der Entwurf stammt von Robert Mallet-Stevens, einem Zeitgenossen von Le Corbusier. Von den Maßen der Klinker bis zu den Farbnuancen der erlesenen Materialien, von den Türklinken und Lichtschaltern bis zum edlen Mobiliar ist jedes Detail ästhetisch und funktional durchdacht und nun maßstabgetreu restauriert. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude befindet sich seit 2001 im Staatsbesitz und ist seit Juni 2015 der Öffentlichkeit zugänglich.

So prägt das bauhistorische Erbe der einstigen Textilindustrie mit schmucken Industriegebäuden aus rotem Backstein, mit Zinnen, Türmen und hohen Schornsteinen, die heute als Kulturzentren oder Museen dienen, das Stadtbild von Roubaix. Mit darin stattfindenden Tanz- Theater- und Musikveranstaltungen wollen sie sowohl zur Integration von Migranten beitragen als auch die strukturschwache Region nachhaltig beleben. Aus den Einblicken in die textile Vergangenheit sollen Visionen für die Zukunft entstehen.



Ein Hauch von Japan


Zum Abschluss unserer Reise besuchen wir den Louvre in Lens, eine Zweigstelle des Louvre in Paris. Wir sind überrascht über die puristisch anmutende Außenanlage. Oder sind wir noch betört von dem streng komponierten Park mit symmetrischem Wasserspiegel der Villa Cavrois? Nein, denn bei genauerem Hinsehen erkennen wir das Zusammenspiel zwischen der naturbelassenen Vegetation, die sich nach Stilllegung der ehemaligen Zeche dort ausgebreitet hat, und der neuen Bepflanzung. Es ist, als betrete man eine Lichtung und als schwebten transparente Schmetterlinge über das Terrain. So leicht breiten sich die flachen Gebäudeflügel in ihrer minimalistischen Schlichtheit aus Aluminium und Glas über die Landschaft aus. Das Ensemble wurde von dem japanischen Architektenbüro Sanaa und der Landschaftsarchitektin Catherine Mosebach entworfen .

Im Gegensatz zu anderen Museen besitzt der Louvre-Lens keine eigene Sammlung. Gezeigt werden Leihgaben aus dem Mutterhaus in Paris. Dabei handelt es sich um Kunstwerke aus verschiedenen Kulturkreisen, die jedoch im selben geschichtlichen Zeitraum entstanden sind. Sie werden in der Galerie du Temps auf einer einzigen Ausstellungsfläche in direkter Nachbarschaft präsentiert. Steintafeln mit eingravierten Menschen und Tieren sowie mit ersten Schriftzeichen, Skulpturen aus Bronze, Statuen aus Marmor, Mosaike und Ölgemälde, der Bogen ist weit gespannt und reicht vom vierten Jahrtausend vor Christus bis ins Neunzehnte Jahrhundert.

Foto: (c) Tobias Metger

Info:

Mit dem Thalys ab Köln nach Lille, www.thalys.com/de, dann weiter mit Metro nach Roubaix
www.tourisme-nordpasdecalais.fr
www.villa-cavrois.fr
www.musee-dentelle.caudry.fr
www.lapiscine.com

Suse Rabel-Harbering