Bildschirmfoto 2025 06 08 um 22.18.23Das Delikt Matteotti – Wie ein Mord den Faschismus begründete

Davide Zecca

Frankfurt am Main (Weltexpresso) -  Heute vor 101 Jahren, am 10. Juni 1924, einem Dienstag gegen 16:15 Uhr, verschwindet der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti auf dem Weg zum Parlament spurlos. Elf Tage zuvor hatte der Jurist in seiner letzten Rede das faschistische Regime Benito Mussolinis scharf angegriffen und die Parlamentswahl vom 6. April 1924 als manipuliert bezeichnet. Worte mit Folgen.



30. Mai 1924 – Alfredo Rocco: „Der Abgeordnete Matteotti hat um das Wort gebeten. Er hat das Wort.“


Am 30. Mai 1924 war es so weit: 54 Tage nach den Parlamentswahlen kommen die 535 gewählten Abgeordneten zur zweiten Sitzung zusammen. Mussolini sowie seine „Lista Nazionale“, eine Liste, die „von außerhalb, über und gegen die Parteien“ stehen und zu einer „aktiven und uneigennützigen Zusammenarbeit“ neigen, bestehend aus 374 Abgeordneten, wollten sich im Parlament dabei als Sieger feiern lassen – aber dies sollte nicht passieren. Als der Präsident der italienischen Abgeordnetenkammer Alfredo Rocco – selbst Mitglied der Nationalen Faschistischen Partei – dem Sozialisten Giacomo Matteotti mit den Worten „Der Abgeordnete Matteotti hat um das Wort gebeten. Er hat das Wort.“ sein letztes Recht als Abgeordneter einräumt, setzte dieser zu seiner Rede an – mit verheerenden Folgen.

„Wir bestreiten hiermit und unverzüglich die Gültigkeit der Mehrheitswahlen. Die Wahl ist unserer Meinung nach im Wesentlichen ungültig, und wir fügen hinzu, dass sie nicht in allen Wahlkreisen gültig ist. Es war kein italienischer Wähler in der Lage, nach seinem eigenen Willen zu entscheiden. Es gibt eine bewaffnete Miliz, die sich aus Bürgern einer einzigen Partei zusammensetzt und deren erklärte Aufgabe darin besteht, eine bestimmte Regierung mit Gewalt zu unterstützen, selbst auch wenn ihr die Zustimmung fehlt.“ Matteottis Worte, die eine neue Reihe nachweislicher Gewalttaten und Missbräuche, die von den Faschisten begangen wurden, um die Wahlen zu gewinnen, anprangerten, lösten im Parlament einen Tumult aus. Von den rechten bis zu den mittigen Bänken war heftiges Poltern zu hören, aber vor allem angriffslustige sowie hämische Äußerungen – alle diese hatten einen Adressaten gemein: Matteotti.

Der Faschist Giacomo Suardo fühlte sich durch die Rede nicht nur selbst beleidigt, sondern sagte: „Er beleidigt das italienische Volk“ – und „aus Gründen der Würde als Soldat verlasse ich diesen Saal“. Aus der Mitte kam: „Die Deserteure haben für Sie gestimmt!“, aus der rechten Ecke war der Ton bedrohlich: „Warum hast du Angst? Warum rennst du weg!“, „Die Miliz verbrennt euch!“ Matteotti ließ sich jedoch von dem äußerst aufgeheizten Klima im Parlament nicht einschüchtern – auch nicht, als Alfredo Rocco ihn eindringlich warnte: „Sehr geehrter Herr Matteotti, wenn Sie sprechen möchten, können Sie fortfahren, aber seien Sie vorsichtig.“ Der Sohn des durch ein brutales faschistisches Attentat später ermordeten Liberalen Giovanni Amendola, da er die Ermordung Matteottis öffentlich anprangerte, Giorgio Amendola, erinnert sich als Gast mit seinen 17 Jahren, dass Matteotti „mit Mut seine Rede fortsetzte“. Der Sozialist aus dem Polesine, der sich mit seinen 24 Parteigenossen in einer starken Minderheit befand, setzte fort: „Ich präsentiere Fakten, die keinen Lärm verursachen sollten. Entweder sind die Fakten wahr oder Sie beweisen, dass sie falsch sind. Ich möchte Sie nicht beleidigen und niemanden verletzen. Was ich sage: Es handelt sich um eine Beschreibung der Tatsachen.“ Aber die „Beschreibung der Tatsachen“ verursachte nicht nur Lärm, sondern später auch Gewalttaten – die im Parlament angekündigt wurden. Roberto Farinacci, ein führender Faschist und einer der radikalsten unter ihnen, drohte: „Am Ende werden wir ernsthaft das tun, was wir noch nicht getan haben!“ Matteotti beendete seine eineinhalbstündige Rede – da er unermüdlich unterbrochen wurde – wie folgt: „Wir verteidigen die freie Souveränität des italienischen Volkes, dem wir unsere herzlichsten Grüße übermitteln, und wir glauben, dass wir seine Würde wiederherstellen, indem wir den Wahlausschuss auffordern, die von Gewalt überschatteten Wahlen zu verschieben.“ Von ganz links hörte man Beifall. Der Sozialist sagte nach seiner Rede, an den neben ihm sitzenden Freund Giovanni Cosattini gewandt, indirekt zu seinen Parteigenossen: „Ich habe meine Rede gehalten. Bereiten Sie jetzt die Trauerrede für mich vor.“


1. Juni 1924 – Il Popolo d’Italia: „Die Rede war in Ton und Inhalt zutiefst beleidigend“

Prompt zwei Tage nach Matteottis Rede meldet sich der Feind – und das auf seinem „Il Popolo d’Italia“ – dem faschistischen Propagandablatt. Dessen Gründer: Mussolini, im Jahr 1914 – ehemaliger Chefredakteur der sozialistischen Parteizeitung „Avanti!“

Die Rede sei „in Ton und Inhalt zutiefst beleidigend“ gewesen. Ferner heißt es: „Die Abgeordnetenkammer wurde heute erneut Zeuge einer weiteren Episode der provokativen Kampagne, die von der Opposition entfesselt wurde.“ Aber diese „Provokation“ hat nicht ihren Ursprung in der Rede vom 30. Mai 1924, sondern „il rosso millionario“ („Der rote Millionär“), so wurde Matteotti von den Faschisten höhnisch genannt, war für den jüngsten Ministerpräsident Italiens Mussolini seit langem ein Dorn im Auge. Am 3. Mai, ein Monat vor der Rede, machte Mussolini es auf seinem Il Popolo d’Italia öffentlich – und wurde persönlich sowie bedrohlich: Matteotti ist ein „vulgärer Betrüger, ein berüchtigter Feigling und ein verachtenswerter Schleimer“, und er täte gut daran, „vorsichtig zu sein. Wenn er eines Tages mit einem gebrochenen Schädel – und zwar einem wirklich gebrochenen – dastehen sollte, hätte er nach so viel geschriebener und unterschriebener Niedertracht sicherlich nicht das Recht gehabt, sich zu beschweren.“ Aber es braucht nicht lange, bis diese feindselige, angestaute Brutalität zu blutigen Taten wird.



10. Juni 1924: Zwei Jungen, eine Lancia Kappa, fünf Männer und Matteotti

„Dieser Mann sollte nach dieser Rede nicht mehr frei herumlaufen.“ – Mit diesen Worten soll Benito Mussolini reagiert haben, unmittelbar nachdem Matteotti im Mai 1924 seine mutige Rede hielt. Es war einer jener impulsiven Ausbrüche, die das rachsüchtige und bedrohliche Temperament des Duce kennzeichneten.

Am 10. Juni 1924 gegen 16:15 Uhr war es so weit: Giacomo Matteotti verließ seine Wohnung in der Via Pisanelli 40 im römischen Viertel Flaminio zu Fuß in Richtung Montecitorio. Statt der üblichen Route über die Via Flaminia und durch die Porta del Popolo wählte er den Lungotevere Arnaldo da Brescia als Abkürzung. Dort stand ein schwarzer Lancia Kappa mit mehreren Insassen: Amerigo Dumini, Albino Volpi, Giuseppe Viola, Augusto Malacria und Amleto Poveromo. Diese fünf Männer, nicht mal 30 Jahre alt im Durchschnitt, frustriert von der vorherrschenden Lage in Italien und alle vorbestraft, bildeten eine faschistische, bekannte Geheimorganisation für Mussolini – die sogenannte „Ceka“. Anführer dieser Schlägertruppe war Amerigo Dumini, ein Italo-Amerikaner, der im Ersten Weltkrieg für Italien kämpfte, der sich gern mit den Worten „Dumini – neun Morde!“ vorstellte.

Dann geschah das Unvermeidliche: Zwei der Männer stürzten sich auf den 39 Jährigen, der sich zunächst losreißen konnte. Doch einer von ihnen schlug ihn brutal zu Boden. Ein dritter stieß hinzu und versetzte dem Abgeordneten einen Faustschlag ins Gesicht, der ihn betäubte. Gemeinsam zwangen die fünf Männer Matteotti in das wartende Fahrzeug. Zwei Jungen, die sich dem Geschehen näherten, wurden grob weggestoßen. Der Wagen raste davon.

Im Inneren des Fahrzeugs leistete Matteotti verzweifelt Widerstand. In einem letzten Akt der Hoffnung warf er seinen Parlamentsausweis aus dem Fenster – ein stummer Hilferuf. Die Situation eskalierte: Als es den Entführern nicht gelang, ihn unter Kontrolle zu bringen, zückte einer von ihnen ein Messer und stach Matteotti unter die Achseln. Er starb nach einem langen, qualvollen Todeskampf. Am 16. August 1924 wurde seine Leiche in einem abgelegenen Waldstück bei Rom entdeckt – gezeichnet von brutaler Gewalt. Die Brutalität und die Verwesung haben Matteottis Leiche so entstellt, dass zwecks Identifizierung Matteottis Zahnarzt konsultiert werden musste, um sicherzustellen, ob es sich wirklich um seine Person handelt.


Matteotti-Krise: Die Aventinische Sezession und Attentate

Matteottis Tod löste in der italienischen Bevölkerung eine tiefe politische Krise aus. Am 27. Juni 1924 bildete sich die Aventinische Sezession, eine Abspaltung bestehend aus 123 Oppositionellen. Die ‚Aventinianer‘, die sich als Protestakt – in Anlehnung an den Rückzug der Plebejer im Jahr 494 v. Chr. – auf den Aventin-Hügel sich trafen, anstatt im Parlament, verfolgten das Ziel, eine unabhängige Aufklärung des Verbrechens, Mussolinis Rücktritt und die Wiederherstellung der Demokratie zu erreichen. Dabei wollten sie durch politischen und moralischen Druck den König Viktor Emanuel III., der auch wegen seiner Höhe von nur 1,53 Meter in Italien spöttisch als „Sciaboletta“ („kleines Säbelchen“) bekannt war, zum Eingreifen bewegen. Doch die Sezession scheiterte: Der König von in Italien fürchtete einen Bürgerkrieg und stellte sich daher nicht gegen Mussolini, die Opposition blieb gespalten und ohne klare Strategie – und das faschistische Regime konnte paradoxerweise seine Macht durch die Abwesenheit der Gegenseite im Parlament sogar weiter festigen. Der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci, der später von den Faschisten inhaftiert wurde und an dessen Folgen verstarb, sah in der Sezession ein Zeichen der politischen Schwäche, gar eine verpasste Chance, den Faschismus zu bekämpfen. In einem seiner Briefe kommentierte er den Versuch der Aventinianer folgendermaßen: „Große Worte, aber kein Wille zum Handeln! Der widerwärtigste Teil bestand aus den Vertretern des Partito Popolare und den Reformisten. Alle natürlich gegen den Generalstreik, den ich vorgeschlagen hatte.“ Ferner würdigte der Kommunist Gramsci seinen sozialistischen Genossen Matteotti zwar als einen „hartnäckigen Kämpfer“, bezeichnete ihn aber zugleich als „Pilger des Nichts“, der „sogar bis zur Selbstaufopferung für eine Idee, die ihre Anhänger und Aktivisten zu nichts anderem führen kann als zu einem sinnlosen Teufelskreis aus Kämpfen, Agitationen und Opfern – ohne Ergebnis und ohne Ausweg“. Aber nicht nur in der Opposition machten sich kritische Stimmen lautstark bemerkbar, sondern auch aus entfernter Nähe. Der berühmteste Italiener seiner Zeit, Gabriele D'Annunzio, äußerte sich am 23. Juli 1924 zur Affäre Matteotti mit den Worten: „Ich bin sehr traurig über diesen stinkenden Ruin.“ Der Mord an Matteotti führte zu einem dramatischen Vertrauensverlust in das faschistische Regime. Die angespannte politische Lage blieb bestehen und schlug zunehmend in Gewalt um. Ein besonders erschütterndes Ereignis ereignete sich am 12. September 1924: In einer Straßenbahn in Rom wurde der Faschist Armando Casalini am helllichten Tag vor den Augen seiner Tochter mit drei Schüssen getötet. Der Täter, Giovanni Corvi, ein kommunistisch gesinnter Zimmermann, rief während der Tat: „Rache für Matteotti!“

 

3. Januar 1925: Mussolinis Übernahme der Verantwortung und die Errichtung der Diktatur

Am 3. Januar 1925 hielt Benito Mussolini eine Rede vor der italienischen Abgeordnetenkammer, die als Wendepunkt in der Geschichte des italienischen Faschismus gilt. Vor dem Hintergrund der Matteotti-Krise, die das Regime schwer erschüttert hatte, gar fast beendet hätte, wies Mussolini zunächst jegliche persönliche Verantwortung für den Mord an dem sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti zurück. Er forderte sogar, man solle ihn gemäß Artikel 47 des Albertinischen Statuts vor dem Obersten Gerichtshof stellen. In einem theatralischen Bekenntnis übernahm er die „politische, moralische und historische Verantwortung“ für die Ereignisse und die Atmosphäre der Gewalt in Italien – allerdings ohne juristische Konsequenzen und ohne Matteotti zu erwähnen. Mit Sätzen wie „Wenn der Faschismus eine kriminelle Organisation wäre, dann wäre ich der Chef dieser kriminellen Organisation!“ inszenierte er sich als kompromissloser Machtträger. Durch diesen Schritt stärkte Mussolini seine Stellung erheblich. Seine Rede richtete sich dabei nicht nur an die Öffentlichkeit, sondern auch gezielt gegen die Opposition, insbesondere die Aventinische Sezession. Mussolini schloss seine Rede mit einer unverhohlenen Drohung: „Seien Sie versichert, dass sich die Lage in der gesamten Region innerhalb von 48 Stunden klären wird.“ Kurz darauf begann er mit der systematischen Ausschaltung aller verbliebenen demokratischen Institutionen. Die Pressefreiheit wurde eingeschränkt, politische Gegner verfolgt und das Parlament entmachtet. In anderen Worten: der Beginn der faschistischen Diktatur in Italien – mit Rizinusöl und Schlagstöcken.

Matteotti – Märtyrer und Symbol des Widerstandes

Der Mord an Giacomo Matteotti im Juni 1924 war nicht nur ein „politischer Akt“ im Sinne faschistischer Logik, sondern auch der Auslöser für eine tiefe Krise im faschistischen Italien. Matteotti, ein entschiedener Gegner Mussolinis und ein leidenschaftlicher Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, der sich für die Schwächsten in der Gesellschaft stark machte, wusste, dass seine Worte und seine Haltung das Regime gefährden würden. Mit seiner letzten, mutigen Rede im Parlament hatte er das faschistische System fast zum Fall gebracht.

Die Beisetzung Matteottis, ein Mann in seinem Heimatdorf Fratta Polesine war von großer Bedeutung – nicht nur für die Familie, sondern auch für die gesamte italienische und internationale Arbeiterbewegung. Die Beisetzung, die im August 1924 stattfand, war eine Manifestation des Widerstands und der Solidarität. Die Zahl der Trauernden war beeindruckend, und die Anteilnahme über die Grenzen Italiens hinaus war deutlich spürbar. So wurde der Sarg des verstorbenen Politikers mit einem Marmorsarkophag versehen, der durch eine großzügige Spende belgischer sozialistischer Arbeiter realisiert wurde.
Besonders bewegend war der letzte Wunsch von Velia Matteotti, der Witwe des Ermordeten. Sie bat darum, dass während der gesamten Fahrt und auch in Fratta Polesine, bei der Beerdigung ihres Mannes, „kein schwarzes Hemd vor dem Sarg und meinen Augen zu sehen“ sei. Dieser Wunsch war ein klares Zeichen der Ablehnung des Regimes und dessen Symbolik – eine stille, aber kraftvolle Aussage der Witwe gegen das faschistische System, das ihren Mann brutal ermordet hatte.

Während der deutschen Besatzung Italiens in der Repubblica di Salò erinnerte man sich an Matteotti und dessen Widerstand immer noch: Es bildete sich die „Brigata Matteotti“. Ihre Partisanen waren meist sozialistische Arbeiter, ehemalige Soldaten, Intellektuelle und Jugendliche, die sich aktiv gegen Faschismus und Naziherrschaft stellten.

Heute ist Matteotti der am meisten geehrte Politiker Italiens – ganze 3.000 Widmungen von Straßen, Plätzen und Schulen sowie Preise erinnern an ihn – und an seinen Widerstand.


Fotos:
Briefmarke 1955
©Italienische Post 
©Comne di Rho
©Wikipedia