Adoleszenz in einer Welt der Risiken – Forschung und Praxis im Dialog, Teil 1/2


Heinz Markert


Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wer in diesen Tagen eine Tagung zur Adoleszenz an der Universität Frankfurt am Main aufsucht, betreibt vorher etwas Orientierungssuche und sucht Erklärungsansätze für das, was die drei Tage bringen werden. Die Adoleszenz beschäftigt die Gesellschaft mehr als in früheren Zeiten. Adoleszenz wurde auffälliger, unter anderem auch durch Terror. In jedem Fall ist Adoleszenz potentiell drama-behaftet.


Irrwege der Adoleszenz (regressiver Männlichkeitsentwurf)


Am Beginn des Ersten Weltkriegs war der Adoleszenz zuletzt die Möglichkeit gegeben, unvermittelt männlich zu reagieren und kurzfristig fragwürdiges Heldentum zu inszenieren. Durchdacht heldisch war das wenig, da hätte es andere Möglichkeiten gegeben, wie z.B. Verweigerung oder Resistance. Am Beginn des Zweiten Weltkriegs war es die komplette Unterwerfung unter den Willen eines ‚Führers‘, die psychopathologische Folgen zeitigte.


Plakativ gesagt ist es in unseren Tagen so etwas wie eine überlebte Prinzenrolle des jüngeren Mannes, welche in den modernen Gesellschaften praktisch ganz ausfallen muss, weil andere Kompetenzen gefragt sind; mehr die empathischen Handlungsmodelle. Der auffällige Drang des Prinzen gibt schwer zu denken. Vielleicht reicht Individualpsychologie als Erklärungsebene für die extremen Fälle gar nicht hin, vielmehr könnte es sein, dass modernistische Abstraktionen und Surrealismen mit hineinspielen, an denen sich jüngere Männer emporranken. Die Universität handelte dann auch von der Spätadoleszenz, einer sich lange hinziehenden.


Das archaische Modell des Mannes hat schwer gelitten, wobei wir der Archaik wohl Unrecht tun. Es ist eher der hilflose Ausdruck schwüler Gemeinschaften, wie aus der Rolle fallender Biker. Ist es das Modell der Kompensation für den Verlust des Ursprünglichen, verbunden mit der Reaktionsbildung auf moderne Weltzustände, die eher feminine Eigenschaften präferieren?


Besonders tritt uns die abstürzende Adoleszenz in den Dschihad-Gestalten entgegen, die unter der Vortäuschung eines moralistischen Enthusiasmus umherwüten. Diese wurden zu Soziopathen. Es ist ein ‚Persönlichkeitsentwurf‘, der viel mehr Männer als Frauen befällt, aber dass er auch Frauen anfällt, zeigt den Ernst der Lage noch einmal mehr Die Ursachen sollten zunächst in der Individualpsychologie aufgesucht werden, Gesellschaft als Ursprungsebene wäre eine zu allgemeine Form und Struktur.


Risiken und Krisen


Die Adoleszenz-Tage des letzten Wochenendes an der Goethe-Universität trugen den Titel: „Adoleszenz in der Welt der Risiken“ und betraf natürlicherweise Frau und Mann, weniger gesellschaftlich als privat, aber auch mit gesellschaftlicher Dimension.


Das Erwachsenwerden, ist es nicht immer ein Drama? Aber welches Leben wäre nicht Drama. Die Entwicklung des jungen Menschen bleibt über 20 Jahre und weit darüber hinaus unabgeschlossen. In diesem Zusammenhang ist von der Spätadoleszenz die Rede. Lebens- und Forschungsgeschichte erscheint in einem neuen Licht. Mangelerfahrungen sind ein wesentlicher Auslöser für Ursachen des anfänglichen Scheiterns. Ablösung ist ein Entpuppungsprozess, der Zeit braucht. Die Adoleszenz spielt in der Entwicklung der Psychoanalyse eine zentrale Rolle. Freud entwickelt sie unter anderem an der Erkenntnis der Gestalt der Nora aus Henrik Ibsens Drama ‚Nora, Ein Puppenheim‘. Patientinnen rückten in der Bewertungsskala nach oben. Mit der weiblichen Adoleszenz eröffnete sich in Wien ein Entwicklungsspielraum, der gerade erst so richtig aufgetaucht war.


Die internationale Adoleszenzforschung unterscheidet sich mit Region, Religion und Kulturkreis. In Afrika ist die Hälfte der Jugendlichen unter 20 Jahren. In Indien sind die männlichen Adoleszenten in der Überzahl. In den sich entwickelnden Ländern bergen Konflikte und sich verschärfende Zerstörungen der Lebensgrundlagen große Risiken für die Jugend. In Japan sind nur noch 9 Prozent zwischen 15 und 24 Jahre alt. Genannt wurde das Buch ‚Die Liegenden‘ von Michele Serra mit Vater und seinem Achtzehnjährigen. Der Vater nimmt ihn mit zur Bergbesteigung als zu besteigendes Initiationsfeld. Der Roman kommt an wie ein ungeschriebener Brief an den Sohn. Der Sohn weigert sich, es interessiert ihn nicht der Linie zu folgen: ‚wie es mein Vater gemacht hat, werde es ich mit Dir tun‘.


Jugendlichsein bringt Eigensinn mit, mit Adoleszent Development und Creation of the New. Größtes Übel für die Jugend: ‚dass man [eventuell] nicht mehr dazugehört‘. Gleichzeitig ist die Ablösung, ja Abgrenzung wichtig, sie pendelt zwischen Imitation und Initiation. Es kommt auch zur Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses. Destruktive Verstrickungen, manifeste oder latente treten auf, unbewältigte Traumata beanspruchen eine schwer beherrschbare Rolle; kaum zu bewältigen ist es, wenn Gewalt, Verfolgung und Krieg in die Leben einbrechen. Dann kann der Boden ganz verloren gehen.


Nicht untypisch: ‚das jugendliche Laster auf dem Sofa‘, online verbunden, nicht aber mit Erzeugern, zwischen ‚absurder Schule‘ und ‚Ich bin hier!!‘; viel wird angefangen, nichts beendet, Kontrolllämpchen werden nicht wahrgenommen. Es braucht neue Balance. Mit den heutigen spielerischen Formen erscheint alles abrufbar im Gegenwärtigen, ein Bann zwischen alten Eltern und adoleszenter Generation legt sich über alles.


Spätadoleszenz und junges Erwachsenwerden in der heutigen Zeit (Werner Bohleber)


Die Psyche ist ein organisches System, auf das eine Welt der Mechanik hart trifft. Die Adoleszenz drängt zur Identität. Das schafft Dramen, die wiederum auch auf Welt treffen. Es wird zuweilen sehr ernst und lächerlich zugleich. Die Spätadoleszenz hat kein Endziel und keinen Endpunkt. Das Übergangshafte endet nicht. Es erstreckt sich über die gesamte Lebenszeit. Demgegenüber ist man heute offener.


Diskontinuitäten treffen sich mit der ‚Turmoil‘ (Aufruhr)-Theorie, einem Index für Nichtlinearität. Selbstorganisation trifft auf gläserne Wände, es heißt, dass es 20 Prozent psychopathologische Jugendliche gebe. Haben wir eine der größten normativen Adoleszenzkrisen - die sich hinziehen? Spätadoleszenz im Erwachsenensein ist das Thema.


Man unterscheidet die Statusstrecken: Achievement (Exploration), Moratorium (vaque Commitments/Bindungen, Verpflichtungen), Foreclosure (without Exploration), Diffusion (no Commitment), nach James Marcia (1966, 1993). - Erprobung und Ereignisse, die den Status reformulieren und reformieren geben die Stichworte. Von den 19jährigen sind 42 Prozent im Moratorium, von den 22jährigen 34 Prozent in der erweiterten Identität (identity achieved) und von den 36jährigen 47 Prozent in der gesteigerten Identität.


Als einer der Zentralbegriffe ist die Self Agency geführt. Hier müssen Alarmglocken klingeln. Das klingt verdächtig nach Ich-AG, aber wenn es aufgepropft gemeint ist, dann mag der Ausdruck berechtigt sein. Worte mit Selbst sind mit größter Vorsicht zu genießen.


Verständlich, dass die Illusion der Omnipotenz schon beim Säugling beginnt, diese ist ein lebensdienliches Konstrukt. Fünf Ebenen des ‚Sense of Agency‘ gibt es, in Serie geschrieben: physisch, sozial, teleologisch, intentional, repräsentational. Diese versetzen Akteurin und Akteur, ihre Agentur, in Mobilität.

 

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Info:
Internationale Tagung: ‚Adoleszenz in einer Welt der Risiken‘, Johann Wolfgang Goethe-Universität 03. – 05.03.2017, Frankfurt am Main, 03.-05. März.2017 · u.a. richtete auch das Sigmund-Freud-Institut die Tagung mit aus.
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