k judiche kulturDAS JÜDISCHE LOGBUCH  

Yves Kugelmann

Warschau Weltexpresso) - Oktober 2018. Es ist Montagabend, als mitten in einer Probe im Jüdischen Theater von Warschau die Meldung für Diskussionen sorgt, dass auf den Investor und Philanthropen George Soros ein Briefbombenanschlag versucht wurde. Es wird der erste einer Reihe sein, die in den kommenden Tagen Verfechter einer liberalen Gesellschaftsordnung in den USA bedrohen würden.

Auf der Bühne probt der polnisch-amerikanische Regiesseur Andrej Krakowski mit dem Ensemble des Jüdischen Theaters Warschau eine Adaption von Kurzgeschichten des Autors Mikolaj Grynberg, die um jüdische Wirklichkeit zwischen Schoah und heutigen Lebenswirklichkeiten kreisen. Migration, Flucht oder die Vertreibung stehen der jüdischen Geschichte und Wirklichkeit eingeschrieben.

Das größte jüdische Projekt der letzten Jahrzehnte heisst «Rückkehr» und somit Weiterleben und Glaube an die Zukunft. Standen bis zum Zweiten Weltkrieg seit dem 19. Jahrhundert Auswanderung, Emigration und somit die Etablierung neuer und die Abkehr von alten Heimaten von Palästina bis Amerika im Fokus, sind es nach der Schoah die großen Projekte der Rückkehr. Israel war soeben als zweitgrößte jüdische Heimat gegründet worden und für viele Überlebende, Flüchtlinge, zerstreute und zerrissene Familien stellte sich die Frage nach dem Wohin. Sogar Deutschland war für viele auf einmal wieder eine Option – wenn auch meist der Not gehorchend. In den folgenden Jahrzehnten und vor allem nach dem Fall der Berliner Mauer sollte viel investiert werden in die Etablierung jüdischen Lebens in Deutschland, Spanien, Portugal, in Europa und später auch einigen anderen Ländern wie etwa Marokko.

Bis 1939 lebten 3,5 Millionen jüdische Menschen im damaligen polnischen Territorium, davon eine Million in Warschau, und damit die mit Abstand grösste jüdische Gemeinschaft weltweit. 200 000 Juden lebten nach der Schoah in Polen. Die Pogrome von 1946 in polnischen Städten hatten nochmals eine Emigrationswelle zur Folge, beendeten aber jüdisches Leben ebensowenig wie die Unruhen in Osteuropa von 1956 bis 1968. Wer heute Warschau, Krakau oder andere Städte Polens besucht, findet vitales, vielfältiges jüdisches Leben und eine Infrastruktur, die sich einige im westlicheren Europa erträumen.

Offiziell leben heute in Polen rund 9000 Juden – rund 7000 mehr als um das Jahr 2000. Inoffizielle Zahlen sprechen von bis zu 30 000 Jüdinnen und Juden mit jüdischer Anbindung, da in Polen jüdische Gemeinden geschichtsbedingt auch sogenannte Vaterjuden teilhaben lassen. Trägt das «Jewish Revival» etwa in Krakau oft befremdlich folkloristische Züge, so etablierte sich in Warschau ein eigenständiges vorwärtsgewandtes jüdisches Leben mit Gemeindezentren, jüdischen Schulen, Instituten, eigener Kaschrut oder etwa dem 2014 eröffneten polnischen Museum der jüdischen Geschichte. Längst ist Polen mit allen internationalen Engagements mehr als eine Gedenkstätte für ausgerottetes Judentum.

Doch auch in diesen Tagen der amtierenden Regierungen in und um Polen beschleicht sogar jüdische Offizielle die Sorge, dass der Demokratieabbau letztlich auch wieder Minderheiten und Jüdinnen und Juden treffen kann. Doch von Angst spricht niemand, sondern von Befürchtungen gerade durch Erfahrung. Mit Selbstbewusstsein wird an der jüdischen Zukunft gebaut. Der Blick auf die aktuellen Immobilienprojekte jüdischer Gemeinschaften in Europa zeigt, dass weit über Polen hinaus die jüdische Antwort nicht Kapitulation, sondern Aufbruch und Aufbau ist. Selbstbewusst und oft ohne öffentliche Förderung werden neue Gemeinde-, Kulturzentren, Sportanlagen, Bildungsstätten eröffnet oder gebaut, wie etwa kürzlich in London, Paris, Berlin oder in den kommenden Jahren in Frankfurt, Zürich und vielen anderen Städten. Entgegen dem vorherrschenden Bild außerhalb Europas oder den üblichen Schabbat-Tischgesprächen investieren die Juden in Europa in die jüdische Zukunft und wandern nicht primär aus. Vielleicht steht ja bald die Rückkehr nach Bagdad an, dem jüdischen Zentrum der Antike ganz nach dem Prinzip, dass jüdische Kultur nicht zuerst konserviert, sondern gelebt werden will.

Foto:
© 

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 28. Oktober 2018