Bildschirmfoto 2019 10 26 um 02.24.08Offene Situation der Regierungsbildung in Israel

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Nachdem Binyamin Netanyahu am Montag das Mandat zur Regierungsbildung an Reuven Rivlin zurückgegeben hat, ist die politische Zukunft Israels offen – sogar Neuwahlen sind denkbar.

Noch während Tausende Israeli und jüdische Touristen aus aller Welt sich am Montagabend fernab von Politik und Skandalen in den so zweiten «hakafot», den zweiten Tanzrunden des zu Ende gehenden Thorafreudenfestes erfreuten und engagierten, läutete eine über die TV-Kanäle des Landes flimmernde Videoaufnahme genau diese neue Polit-Runde ein: Premierminister Netanyahu gab bekannt, dass er es trotz wochenlanger Bemühungen vor und hinter den Kulissen nicht geschafft habe, eine lebensfähige Regierungskoalition auf die Beine zu stellen. Deshalb gebe er, wie er sagte, das entsprechende Mandat dem Staatspräsidenten Reuven Rivlin zurück, und zwar zwei Tage bevor er es von Gesetzes wegen ohnehin hätte tun müssen.


Mandat bei Benny Gantz

Es ist belanglos, ob diese Meldung die Adressaten mit hoffnungsvoller Erwartungsfreude erfüllt oder mit Angst vor dem, was das Volk nun erwarten soll. Tatsache ist, dass erstmals seit fast zwölf Jahren das Mandat zur Regierungsbildung nicht an Likud-Chef Netanyahu gegangen ist, sondern an eine andere Person, im konkreten Fall an Benny Gantz, den Chef der Blauweiss-Partei.

Die Chancen von Blauweiss auf Erfolg werden als eher gering eingeschätzt. Abgesehen davon, dass Gantz mit 33 Mandaten nur gerade eine Stimme mehr auf die parlamentarische Waage bringen kann als Likud, schreckt die Tatsache, dass Blauweiss bei seiner Koalitionsbildung ziemlich sicher sogar auf die Hilfe von außen (also nicht als Koalitionspartner) der arabisch-israelischen Gemeinsamen Liste angewiesen sein wird, viele Israeli ab. Für viele Politiker, auch aus der gemäßigten Mitte, setzt sich die Gemeinsame Liste vorwiegend aus «Israel-Hassern» zusammen, mit denen das jüdische Israel nicht kooperieren dürfe.

Diese Beurteilung soll hier nicht auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Ausschlaggebend sein dürfte viel eher, ob Gantz es fertigbringt, eine Konstellation in der Knesset zu konstruieren, die einerseits die Israel-Araber als irgendwie geartete Partner akzeptiert und andererseits Konsens-Parteien wie etwa Israel Beiteinu von Avigdor Liberman (acht Mandate) von ihrer bisherigen kompromislos antiarabischen Haltung abbringen würde.


Erneute Neuwahlen?

So weit gediehen ist die Situation aber noch lange nicht. Am Dienstag verdichteten sich die Gerüchte, wonach Gantz als ersten Partner für Koalitionsgespräche ausgerechnet Likud zu sich ins Büro einladen will. Und nicht nur dies: Gantz soll sogar versuchen, mit Netanyahu höchstpersönlich Gespräche zu führen.

Als Mandatsinhaber für die Regierungsbildung kann Gantz heute sicher anders auftreten als während der ersten Verhandlungsrunde, in der der Blauweiss-Chef jeden Vorschlag des Premiers ohne viel Federlesens abwinkte, während Netanyahus Bemühungen in erster Linie darauf abzielten, Zeit zu gewinnen. Bestätigt hat es offiziell bei Likud noch niemand, doch muss man über keine spezielle Fantasie verfügen, um davon auszugehen, dass Netanyahu effektiv mit der Abhaltung einer dritte Runde von Neuwahlen innert eines Jahres liebäugelt.

Sie würde, wenn alle anderen Stricke reissen, wahrscheinlich noch im April 2020 stattfinden und – was aus Netanyahus Perspektive wohl das Wichtigste wäre – laut Wahlstrategen dem derzeitigen Regierungschef trotz seiner gerichtlichen Schwierigkeiten weitere sechs Monate an der Spitze des Landes einräumen. Ob das Netanyahu allerdings ausreicht, um sich aus seinem heutigen Tief wieder nach oben zu rappeln, ist eine ganz andere Frage, die vor allem weniger von Netanyahu selber abhängt als von Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit und dem Grad seiner Entschlossenheit, was die Anklageerhebung gegen oder den Freispruch für den heutigen israelischen Regierungschef in diversen, auf den ersten Blick doch recht gewichtig erscheinenden Anklagepunkten betrifft.

Eine Umfrage des israelischen TV-Kanals 13 gelangte zum Schluss, dass die Resultate eventueller Wahlen fast die gleichen sein würden wie die vom 17. September. Auf die Frage, wer für dritte israelische Wahlen in nur einem Jahr verantwortlich zu zeichnen hätte, nannten 37 Prozent Netanyahu, 21 Prozent Gantz, während 30 Prozent der Befragten beiden Politikern die Schuld für das Ungemach gleichermassen in die Schuhe schieben.

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Für Binyamin Netanyahu könnte es knapp werden, wenn eine neue Regierung gebildet wird
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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 25. Oktober 2019