Bildschirmfoto 2020 01 27 um 02.27.43Das Jüdische Logbuch. Zum 27. Januar

Yves Kugelmann

Tel Aviv, Januar 2020. Schreie Nacht für Nacht. Manchmal seltener. Die Albträume der Grosseltern, der Eltern, der Verwandten. Immer noch. Der Krieg – er ist noch lange nicht vorbei. Die Schreie sind immer noch lauter als die jiddischen Partisanenlieder. Tag für Tag Kaddisch, Kerzen, Jahrzeit für Millionen. Die Ohnmacht der Davongekommen. Die Erinnerung an die Schläge, die Erniedrigung, die Schuldgefühle, die Trennung von Familien, die Unterwerfung und all das, was geschieht, wenn nicht nur das Leben bedroht, sondern die Würde genommen ist. Ohne Schuld zu Schuldigen gemacht. Da, alle diese Bücher. Die unendliche Fülle an Zeugnissen, Dramen, unausweichlicher Erzählung. Überall. Dort der Krieg – der noch lange nicht vorbei ist.

An diesem Morgen strahlt die Sonne aufs Café mitten im Flohmarkt von Yafo. Tagelang hat es sintflutartig geregnet. Doch heute endlich Licht. Er ist Sohn von Überlebenden. Einer von Millionen Kindern von Schoah-Überlebenden. Er redet über seine Kindheit. Über die Kindheit, die nie da war und doch nie vorbeigehen kann. Nacht für Nacht die Schreie der Mutter, die Tränen des Vaters, dann das Schlagen der Kinder in all dieser Verzweiflung. Die Eltern haben den Krieg überlebt. Aber wie. Und wie sollten sie fortan damit zurechtkommen. Der Krieg – er war noch lange nicht vorbei nach 1945, nach der Befreiung, nach dem Aufbruch, nach der Zuversicht. Nach der Generation ermordeter Juden, der zerstörten Existenzen, der geraubten Leben wuchs eine Generation heran unter dem Joch der Traumata, des ganzen millionenfachen Exzesses, der Ohnmacht, Überforderung und des Schmerzes, der Verletzung und der Krankheiten.

Die Kinder, dieser Eltern – wie konnten sie das Schweigen, das ständige Reden, wie sollten sie all das emotional, intellektuell, existentiell ertragen? Der Krieg – er hat sie krank gemacht. Der Krieg hat sie noch sensibler gemacht für die Dinge, die da geschehen. Den despektierlichen Umgang mit Opfern und ihren berechtigten Forderungen nach Anerkennung, vielleicht sogar Restitution. Die schamlose Verunglimpfung der Opfer und ihrer Bedürfnisse. Die Schande allenthalben, die Affronts, die Relativierung und dann gar die Leugnung. Der Krieg – er ist da. Tagtäglich. Die Angst so vieler vor Wiederholungen im Grossen oder Kleinen; sie ist Teil des Krieges geworden, der immer noch andauert. Dann all jene, die die Opfer, die Schoah instrumentalisieren, verpolitisieren und im gleichen Atemzug die Opfer und ihre Anliegen ignorieren, sie gar dominieren. Die Skandale, Affronts, Schandtaten: Wer kennt sie nicht. – Im Café in Yafo erzählt er davon, wie der Krieg sich zwischen die Eltern und Kinder, zwischen Normalität und Recht auf Liebe geworfen hat. Der Krieg trennt bis heute, was zusammengehört. Der Mann, das Kind im Mann redet nüchtern. Und er steht für so viele. Kaum eine jüdische Familie, die diesen Kampf gegen Fesseln der Vergangenheit nicht kennt. Wie denn, sollten sich die Nachgeborenen redlich befreien ohne neuen Schmerz zu erwirken? Die erste Generation der Opfer und die zweite Generation der Gefangenen – denn der Krieg ist noch lange nicht vorbei. Er wird auch dann nicht vorbei sein, wenn die nächtlichen Schreie verstummt sind, wenn in zehn oder zwanzig Jahren die letzten Zeitzeugen nicht mehr da sein werden. Der Krieg ist noch lange nicht vorbei und die Zukunft wird noch lange keine Zukunft sein.

Die Zukunft bleibt die Flucht vor dieser Vergangenheit. – Hat er sich mit seinen Eltern versöhnt, mit seiner ganzen Kindheit und dem ganzen Wahnsinn? Den Zwängen, Medikamenten, Psychoanalysen? Wie geht er mit seinen eigenen Kindern um? Die Opfer können nicht vergessen, selbst wenn sie wollten. Doch die Gesellschaft hat rasch vergessen. Wie sie immer rasch vergessen möchte, wenn die Vergangenheit die Gegenwart stört. Doch diese Gegenwart ist noch lange nicht befreit vom Krieg. Denn er ist immer noch da. Nicht in Lagern, nicht auf Schlachtfeldern oder an der Front. Der Krieg ist da, weil es Dinge gibt, die nicht zu beenden sind. Man kann etwas beginnen. Aber kann man es auch beenden? Die, die jetzt und eigentlich nahtlos schon seit 1945 begonnen haben Juden – und oft auch jede andere Feindlichkeit zu proklamieren, vergehen sich zuerst nicht an Juden, sondern an der Gesellschaft schlechthin. Da beide nicht mehr zu trennen sind. 75 Jahre nach der Schoah sind alle Ingredienzien, die zu ihr geführt haben, immer noch da – unabhängig von der Frage, ob sie jemals wieder zu einer Katastrophe zusammengeführt werden. Deshalb ist der Krieg noch lange nicht vorbei. Alles, was den Krieg möglich gemacht hat, ist immer noch da. Vieles, das einen künftigen Krieg verhindern könnte, allerdings auch. Die Errungenschaften zur Verhinderung von Massen- und Menschenmord sind da – auf dem Papier.

Doch wird es helfen, wenn diese die Vergangenheit ignorierenden und teils negierenden Parteien und Bewegungen wieder Mehrheitsfähig werden? Wenn Menschen- und Judenhasser sich legalisieren. Mal flammt es auf, mal bleibt es im Untergrund. Ja, vielleicht bleibt die Lehre aus der Geschichte, dass es keine Lehre aus der Geschichte gibt. Auch, weil es kein verbindliches historisches Gewissen geben kann ausserhalb der Opfergemeinschaften. Und dann? Was ist dann noch Zivilisation? Was ist die Menschheit dann noch wert? Was ist eine Gesellschaft wert, die Schoah-Überlebende zu Bittstellern degradiert und sie auch noch so behandelt? Was sind Gesellschaften wert, in denen Holocaust-Überlebende als sozial Bedürftige um Geld ringen müssen, und was, wenn durch den Krieg zerrissene Familien nicht in Ruhe leben, auch von jüdischen Gemeinden nicht immer schrankenlos aufgenommen werden? – Der letzte Café an diesem Morgen. Die letzten Gedanken. Ja, auch er hat diese schlaflosen Nächte. Immer wieder. Wenn er von seinen Eltern träumt. Wie er selbst vor den Schlächtern wegrennt. Der Krieg ist da und wird es bleiben. Viele, viele müssen sich Fragen stellen, wie sie ausserhalb und innerhalb der jüdischen Gemeinschaft mit der Schoah und ihren Überlebenden umgegangen sind. Alle Bürokraten, Politiker, viele Bürgerinnen und Bürger irgendwo und viele auch in jüdischen Gemeinschaften.

Wenn die Überlebenden und ihre Kinder vor den Kopf gestossen, nicht akzeptiert oder mit Respekt behandelt wurden. Wenn Übergriffe noch und noch stattgefunden haben, die sich viele gar nicht erst bewusst machen wollen. Das Trauma ist Teil der Kultur geworden, ebenso die Überforderung und Ohnmacht – und eben viel Irrationales, das nicht durch Rationalität gebändigt werden kann. Vielleicht aber könnte man dem mit Empathie begegnen. Wenn in diesen Tagen das Establishment teure Reisen unternimmt, sich präsentiert auf gesellschaftlichen Anlässen des formalisierten Gedenkens, dann sollten sie sich fragen, was sie wirklich für die Holocaust-Überlebenden getan haben oder eben doch nur schamlos zu tun vorgeben. All diese Aufspielerei und Verführung im vermeintlichen Namen der Überlebenden. Alles Geld, das nie an Opfer gelangte, hat auch Teile der jüdischen Gemeinschaft verdorben. – In Yafo indessen fluten die Menschen die Flohmärkte. Das Leben geht weiter und beginnt immer wieder von neuem. Da das Geschäft mit Gerümpel aus Silber. Alte Judaica, Lampen, Thoraschreiber aus Silber. Haufenweise. Vieles aus Haushalten von immigrierten Überlebenden. Die Schoah bleibt da. Sie ist noch lange nicht vorbei und wird zum ewigen Krieg – auch wenn er das nie sein darf.

Foto:
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 24. Januar 2020
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.