Alexander Gauland, Björn Höcke, Alice Weidel und anderen Leugnern und Verharmlosern gewidmet
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Am 18. Januar 1945 steht die Rote Armee nur noch 60 KM vor Auschwitz. Die SS hat zu diesem Zeitpunkt bereits damit begonnen, dort die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Baracken werden in Brand gesetzt, Dokumente vernichtet, Öfen der Krematorien werden demontiert und die Mehrzahl der Gaskammern gesprengt. Mit der hektischen und ungeordneten Auflösung des Vernichtungslagers beginnt das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords.
Während große Teile der Anlagen unkenntlich gemacht werden, treiben Wachmannschaften die Überlebenden, es sind etwa 60.000, in größeren Gruppen Richtung Westen; Ziele sind die noch nicht von Alliierten besetzten Reichsgebiete. 8.000 Häftlinge bleiben im Lager zurück. Es handelt sich um besonders schwache und kranke, die nicht mehr laufen können, und um 600 Kinder. Mobile SS-Einheiten, die auch für die Spurenbeseitigung zuständig sind, ermorden noch in den letzten Stunden vor der Befreiung durch die Rote Armee 800 Häftlinge.
Ein Augenzeuge, der aus Berlin stammende Martin Friedländer, berichtet später exemplarisch über das, was die entkräfteten Häftlinge außerhalb des KZs erwartete.
Er und die anderen seiner Gruppe werden zu den nahe gelegenen Bahngleisen getrieben. Auf freier Strecke wartet ein Güterzug. Etwa 90 Menschen müssen sich in einen Viehwaggon klemmen:
„Wir hatten immer darauf geachtet, dass ungefähr 30 Mann sich zwei Stunden hingehockt und sich ausgeruht haben und die anderen 60 mussten stehen, und nach zwei Stunden haben sich die andern dann hingehockt. Die Toten haben wir an die Tür gelegt. Unsere Notdurft haben wir auf den Toten verrichtet, weil es keinen anderen Platz gab. Nach dem zweiten Tage hielt der Zug auf freier Strecke. Die Toten wurden ausgeladen, der Waggon etwas von den Fäkalien gesäubert. Jeder, der noch lebte, erhielt eine Hand voll Makkaroni und etwas Wasser. Dann ging die Fahrt weiter. Wir haben nichts mehr empfunden; kaum noch den Durst und den Hunger, selten den gequälten Körper, die Hoffnung auf ein Überleben hatten wir längst aufgegeben. Man war nur noch eine Herde Vieh, war nur eine Nummer. Ich war die Nummer 179.968.“
Die Endstationen der Todeszüge sind andere Konzentrationslager innerhalb des Deutschen Reichs, die weiter entfernt von der vorrückenden Front liegen: Buchenwald, Sachsenhausen, Dachau, Mauthausen oder Bergen-Belsen. Anfang 1945 befinden sich noch 700.000 KZ-Häftlinge in der Gewalt des NS-Regimes, die unter erheblichem logistischem Aufwand wochenlang kreuz und quer durch noch unbesetzte Gebiete transportiert werden. Die Frage, warum die SS sie nicht – wie in den Jahren zuvor – durch Massenerschießungen ermordete, wird von den Historikern unterschiedlich beantwortet. Die einen meinen, dass die Gefangenen im sogenannten „Endkampf“ um das Deutsche Reich als Arbeitssklaven eine uneinnehmbare Festung errichten sollten. Andere verfügen über Hinweise, nach denen Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, sie als Faustpfand für erhoffte Verhandlungen mit den Alliierten verwenden wollte. Es gibt aber auch zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass eine ratlose NS-Führung in den letzten Kriegsmonaten eine widersprüchliche und inkonsequente Politik im Umgang mit den KZ-Häftlingen verfolgt habe. Zudem müsse davon ausgegangen werden, dass die Verantwortlichen vor Ort vergeblich auf eindeutige Befehle von oben gewartet hätten. So muss ein Güterzug, der das Lager Mauthausen in Österreich ansteuert, kurz vor dem Ziel wieder umkehren, weil dieses KZ überfüllt ist. Er wird nach Sachsenhausen bei Berlin umdirigiert. Die Reise endet schließlich im bayrischen KZ Flossenbürg.
Ein damals 19-jähriger KZ-Häftling erzählt, dass er Mitte April 1945 beim Fußmarsch von Flossenbürg nach Dachau durch ein kleines bayrisches Dorf gekommen sei. Trotz der Bewacher sei plötzlich ein junger Mann auf sie zugekommen, an ihnen vorbeigegangen und habe dabei laut gerufen: „Seid stark, haltet durch“. Dann wäre er verschwunden. Auch andere Überlebende berichten von seltener Sympathie und Hilfe durch die Bevölkerung. In Palmnicken, einer Kleinstadt an der Ostsee, versorgen Einwohner Häftlinge aus dem KZ Stutthof mit Brot und Kartoffeln; solange, bis in der Nacht SS-Männer aufmarschieren. Sie treiben die Gefangen auf das dünne Eis der Ostsee und schießen dann vom Land aus auf sie. Etwa 3.000 werden auf diese Weise ermordet. Die Hilfe der Bevölkerung war vergeblich gewesen.
Woanders reagieren die Anwohner hingegen feindselig und aggressiv, wenn KZ-Häftlinge von der SS an ihnen vorbeigetrieben werden oder sie Geflüchteten begegnen. In Lüneburg veranstalten Polizisten, Gestapo-Angehörige und Zivilisten eine regelrechte Treibjagd auf entflohene Häftlinge. In Celle ermordet ein Führer der Hitlerjugend eigenhändig mehr als 20 „entlaufene Zebras“, wie sie wegen der gestreiften Häftlingskleidung genannt werden.
In Gardelegen nördlich von Magdeburg treiben Angehörige der Wehrmacht, der Waffen-SS, des Volkssturms, der Hitlerjugend und der Feuerwehr etwa 1.000 KZ-Häftlinge in eine Feldscheune. Anschließend setzen sie diese in Brand und feuern zusätzlich Panzerfäuste ab. Nur zwanzig überleben das Blutbad. Kurz darauf nehmen US-Truppen den Ort ein, entdecken die Leichen und erschießen 20 an der Tat beteiligte SS-Männer.
Anhand übereinstimmender Aussagen von Überlebenden verstärkt sich der Eindruck, dass während der letzten Kriegsmonate die Vernichtungsmaschinerie des NS-Systems ungebrochen ist und sogar immer neue Formen von Grausamkeit hervorbringt. Hierzu zählen auch die Todesmärsche aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern, insbesondere die aus Auschwitz.
Die NS-Führung will den von ihr ausgelösten „totalen Krieg“ zur Apokalypse steigern. Deutschland soll in ein riesiges Schlachthaus verwandelt werden. Hitler will das eigene Volk ins Verderben stürzen, falls dieses den Krieg nicht siegreich beenden kann. Der englische Historiker Ian Kershaw sieht das ähnlich:
„Er (Hitler) wusste, er konnte selber das Kriegsende nicht überleben, und er war bereit, das deutsche Volk mit in den Abgrund zu reißen. Die Bevölkerung habe sich als zu schwach erwiesen, sie habe ihren Untergang verdient. Der Amoklauf der Regime-Aktivisten in dieser letzten Phase beruhte nicht zuletzt auf der Erkenntnis, dass man die Brücken hinter sich abgebrochen hatte, was Hitler und Goebbels natürlich sehr begrüßten.“
Die gnadenlose Härte, mit der das Regime gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, wenn diese auch nur leiseste Zeichen von Unzufriedenheit, Kapitulationsbereitschaft oder gar Aufbegehren zeigt, ist beispiellos. Das Schlagwort vom „Volksschädling“ macht die Runde. Noch während der letzten Kriegswochen verhängen die Standgerichte über 6.000 Todesurteile. Insgesamt lässt die Wehrmachtsjustiz während des Zweiten Weltkriegs 20.000 deutsche Soldaten hinrichten, die meisten kurz vor Kriegsende. Im Ersten Weltkrieg waren es 48.
Der israelische Historiker Daniel Blatman schreibt über die letzte Phase des Dritten Reichs: „Nach der Räumung der Vernichtungslager im Osten werden die Todesmärsche zu Schauplätzen des Genozids. Die Morde finden nicht mehr abgeschirmt hinter Stacheldraht und Wachtürmen statt, sondern vor aller Augen, auf offener Straße, in Scheunen, leeren Fabrikhallen und Straßengräben. Die vorbeiziehenden Gefangenenkolonnen bieten auch einfachen Bürgern die Gelegenheit, Hass und Frustration auszuleben, angestachelt durch eine aggressive Propaganda, die vor angeblich blutrünstigen Rotarmisten und marodierend durchs Land ziehenden KZ-Häftlingen warnt. Manchen Deutschen dämmert, dass sie angesichts der Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen nicht mit Gnade rechnen können. Alle Gefangenen waren jetzt Feinde, die immer noch lebten, während die deutsche Nation ihr größtes Trauma erlebte, den totalen Zusammenbruch, die Erkenntnis, dass es zu Ende war. In dem Moment entschieden viele Deutsche, dass die Gefangenen kein Recht mehr hatten zu leben, nicht nur, weil sie eine vermeintliche Bedrohung waren, sondern weil deren Gegenwart ihnen auch ihre eigene Niederlage vor Augen führte.“
Von den Anfang 1945 offiziell registrierten noch 700.000 KZ-Häftlingen kam bis zum offiziellen Ende des Krieges am 8. Mai ein Drittel ums Leben: Durch Zwangsarbeit, Hunger und Kälte, Erschöpfung und Krankheit, Misshandlungen und gezielte Tötungen. Die meisten Täter mussten sich nie vor Gericht verantworten. Sie wälzten, sofern überhaupt gegen sie ermittelt wurde, die Verantwortung auf Vorgesetzte ab oder beriefen sich auf die chaotischen Zustände während der Todesmärsche.
Foto:
Gesprengtes Krematorium in Auschwitz
© Archiv der Gedenkstätte Auschwitz