Bildschirmfoto 2022 03 05 um 00.58.52DAS JÜDISCHE LOGBUCH  Anfang März

Yves Kugelmann

Hamburg (Weltexpresso) - Kinder auf der Flucht. Familien unter Bombardement. Kindertransporte nach Europa. Familien, die um ihr Leben bangen, um Essen ringen, Hunderte von Kilometern flüchten und an Grenzen ausharren. Russlands aktuelle Kriegsverbrechen und der Völkerrechtsbruch haben eine jahrelange Vorgeschichte. Zu viele in Europa haben das zugelassen, zu viele, die nun diese Eskalation gebraucht haben, um in den letzten Tagen zum Teil radikal und viel zu spät umzuschwenken. Der Faschismus ist zurück in Europa. Der Gulag war nie weg, doch das Bewusstsein jener, die Vladimir Putin und seine vertrauten Oligarchen umwarben.

Indessen setzt Putin seinen Stalinismus konsequent fort. Doch wo ist in diesen Tagen der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC), Mosche Kantor? Verhandelt er mit Regierungen über die Aufnahme von Flüchtlingen? Votiert er gegen den Krieg? Versucht er, seinen Freund Putin zur Räson zu bringen?

Frühlingserwachen vor dem Endspiel oder einfach nur Entlarvung der grossen Scheinheiligkeiten? Mit einem Mal zelebrieren Europas Regierungen über Nacht einen grundsätzlichen Wandel. Die Horden von Experten, Beratern, selbstbewussten Politikern haben mit hohen Kosten über Jahre falsch beurteilt, falsch politisiert, nicht richtig hingeschaut und richten jetzt mit der großen Kelle an. Verantwortung wird niemand übernehmen, eingesteckte Beraterhonorare nicht erstattet. Mit der Eskalation kommt die Entlarvung wie eine Schocktherapie für den Westen und eine Kaskade von raschen Veränderungen nimmt ihren Lauf, auch für die jüdische Gemeinschaft Europas. Der Aufbau jüdischer Gemeinden im ehemaligen Osteuropa und den ehemaligen Sowjetrepubliken war seit der Wende 1989 Priorität. Rasch haben jüdische Organisationen und Stiftungen, namentlich auch die Lauder Foundation, in beeindruckender Weise die Stärkung und den Wiederaufbau jüdischer Gemeinden forciert und umgesetzt. Die jüdische Landkarte hat sich in den letzten 25 Jahren in Europa massiv geändert, jüdische Gemeinde- und andere Zentren, Schulen, Museen und so fort sind entstanden ebenso wie Programme für jüdische Erziehung und soziale Hilfe. Der Krieg gegen die Ukraine bedroht vieles davon und zeigt zugleich, dass Oligarchen wie Mosche Kantor und andere die jüdische Gemeinschaft Europas korrumpiert und gegeisselt haben, mit immensen Geldströmen in die Unfreiheit gekauft haben.

Frühlingserwachen vor dem Endspiel? Es braucht die Eskalation, damit Europa sich besinnt. Begonnen hat der Krieg 2014. Acht Jahre Wegschauen, Putin hofieren, wirtschaftlich kollaborieren, Oligarchen und reiche Russen bezirzen war die falsche Strategie, um eine drohende humanitäre Katastrophe mitten in Pandemiezeiten und Inflation zu verhindern. Die Schweizer Regierung hat bis letzten Montag in unwürdiger Weise laviert, erst auf Druck anderer europäischer Regierungen eingelenkt und Sanktionen ergriffen. Schändlich wie eh und je – aber umgänglich in einem multilateralen Europa, das sich nun den Realitäten stellen muss.

Zum Glück sind die ukrainischen Flüchtlinge diesmal keine Muslime. Zum Glück. Europa wird sie nicht abweisen können. Wird keine unwürdigen Debatten führen können. Christen haben einfacher Anspruch auf Würde und Asyl. Juden werden bei dieser bevorstehenden Flüchtlingswelle als «quantité négligeable» aufgenommen. Die neue Arithmetik des Asyls ist die Religion in diesem absurden sogenannten Europa der sogenannten Werte, das im Februar 2022 seine Erweckungserlebnisse vermittelt bekommt. Der jüdische Präsident Wolodimir Selenski muss für den Westen am Ural die Freiheit verteidigen. Der jüdische Präsident Mosche Kantor verteidigt den jüdischen Präsidenten und die jüdischen Ukrainier nicht. Nein, der Putin-Komparse taucht ab und mit ihm alle seine Weggefährten. Tagelange Anrufe und Anfragen via E-Mail der tachles-Redaktion bleiben unbeantwortet. Symptomatisch für die Situation der Juden in Europa ist die Tatsache, dass deren Präsident Mosche Kantor untergetaucht ist. Kein Wort seit Kriegsausbruch. Der EJC-Präsident rief keinen Krisenstab ins Leben, stellt bis Donnerstag keine Gelder für jüdische Flüchtlinge zur Verfügung. Keine der Mitgliedsorganisationen opponierte oder verlangte endlich den Rücktritt von Mosche Kantor als Präsident des EJC. Zu lange hat er die jüdische Gemeinschaft in Europa korrumpiert, gelähmt, jüdischen und nichtjüdischen Funktionären – auch Schweizern – Reisen in Privatflugzeugen bezahlt und sie hofiert. Der Oligarch Mosche Kantor ist untergetaucht, die jüdische Dachorganisation Europas führungslos und Opposition aus den Landesverbänden lässt auf sich warten. Derweil formiert sich eine starke, beachtliche, wichtige jüdische Zivilgesellschaft. Bleibt zu hoffen, dass sie nach der Krise übernimmt und sich eine zukunftsweisende Politik für Jüdinnen und Juden in Europa formiert.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind Jüdinnen und Juden in Osteuropa vor und nach der Wende bedroht geblieben, haben unter Regimen gelitten wie in Rumänien unter Ceaușescu, in Weissrussland unter Lukaschenko, in Serbien und anderen Ländern. Auch in Russland unter Putin. Denn bei weitem sind viele von ihnen seinem Pakt gegen Freiheit, gegen Demokratie und Liberalismus nicht gefolgt und lebten mit ständiger Bedrohung. Eine Bedrohung, die viele im «Westen» nicht sehen wollen und wollten. Über bedrohte Emigranten und Flüchtlinge aus Europas Osten wurde nicht gesprochen – aber viele Organisationen waren damit konfrontiert. Das jüdische Europa wird sich ebenso neu formieren müssen wie Europa selbst. Dazu gehört die Abkehr von schmutzigem Geld, undemokratischer Einflussnahme und Gängelung der jüdischen Gemeinschaft durch eine Form von Autokratie, die längst bekannt und noch nicht überwunden ist.


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Jüdische ukrainische Flüchtlinge werden letzten Mittwoch in einer Chabad-Unterkunft in Kischinew, Moldawien, untergebracht.

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 4. März 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.