Putin ubte in Grosny den totalen KriegOder eine totale Niederlage Russlands? Bleibt nur diese Wahl?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main - Die anscheinend unaufhaltsame Zerstörung der Ukraine durch Putins Truppen ruft in Deutschland zunehmend den Protest der Friedfertigen hervor.

Der ist legitim, aber höchstwahrscheinlich aussichtslos. Denn eine Restukraine, die zur Kapitulation gezwungen wäre und der eine Neutralität aufgezwungen würde und die sich weder an die Europäische Union noch an die NATO anlehnen dürfte, wäre eine Zeitbombe im östlichen Europa. Sie könnte Russland und andere autoritäre Staaten überdies ermutigen, lange gehegte Expansionspläne vollständig umzusetzen. Ich denke an die Begehrlichkeiten Putins gegenüber Moldau und Georgien. Ebenso an Chinas Anspruch auf Taiwan sowie an das Hegemoniestreben Saudi-Arabiens. So ist Krieg anscheinend nicht nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie der preußische Militärtheoretiker Clausewitz meinte. Er muss auch einen endgültigen Schlusspunkt setzen können. Für die eine Seite durch einen eindeutigen Sieg, für die andere durch eine totale Niederlage.

In der Biografie über einen der „Väter“ der Bundeswehr habe ich hierzu bedenkenswerte Argumente gefunden (John Zimmermann: Ulrich de Maizière. General der Bonner Republik). Ulrich de Maizière, Inspekteur des Heeres (1964 - 1966), Generalinspekteur der Bundeswehr (1966 - 1971) und ehemaliger Generalstabsoffizier in der Wehrmacht, wurde 2004, zwei Jahre vor seinem Tod, von seinem Biografen John Zimmermann um eine Einschätzung des Widerstands der Offiziere um Graf Stauffenberg gebeten. Er zollte seinen ehemaligen Kameraden Respekt, wies aber auch darauf hin, dass es ohne die totale Katastrophe des Nazi-Regimes, ohne die bedingungslose Kapitulation, keine Chance gegeben hätte, nach dem Krieg ein demokratisches Deutschland zu errichten.

Er begründete seine Meinung mit seiner persönlichen Quintessenz aus dem Zweiten Weltkrieg. So sei der von Nazi-Deutschland entfesselte Krieg nicht nur der Versuch gewesen, eine imperiale Großmacht wieder auferstehen zu lassen. Sondern im gleichen Maße auch eine Abkehr von allem war, was spätestens seit der Aufklärung ethisch, rechtlich und kulturell auf deutschem Boden entstanden war.

Der NS-Faschismus entlarvte sich nach de Maizières Überzeugung schnell nicht nur als autoritäre Ordnung, sondern auch und vor allem als gewaltsamer Unterdrücker von Völkern, Ethnien, Menschenrechten und zivilgesellschaftlichen Errungenschaften. Hätte es nach einem gelungenen Putsch 1944 einen Friedensvertrag mit den Alliierten gegeben, wären auf deutscher Seite zu viele Befürworter des Totalitarismus am Tisch gesessen, die in der Folge unter alliierter Aufsicht vor allem eine heimliche Restauration der Verhältnisse der Jahre 1933 bis 1937 hätten betreiben können.

Der russische Diktator Wladimir Putin, der zwar nicht 1:1 mit Hitler gleichzusetzen ist, verachtet genau wie jener Humanität und Demokratie und glorifiziert einen auf Gewalt und Unrecht basierenden imperialen, seine Nachbarländer bedrohenden Staat. Erich Fromm hat solche Gestalten in seiner „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ analysiert und ihnen das Recht auf aktives Mitwirken abgesprochen.

Die NS-Terroristen haben im Spanischen Bürgerkrieg die Vernichtung der Zivilbevölkerung geprobt, bevor sie mit dem Überfall auf Polen die Grenze zum Weltkrieg überschritten. Putins Terrorregime hat seine Generalproben in Tschetschenien und Syrien absolviert. Die Unterstützung der Separatisten im Donbass und die Annektierung der Krim waren Tests, um die Reaktion des Westens zu erkunden. Das Minsker Abkommen war so wenig wert wie 1938 das Münchener.

Wären Putin und seine Vasallen Mitglieder eines kriminellen Clans, der das Gewaltmonopol eines Rechtsstaats ad absurdum führt, würde man Einsatzkommandos der Polizei alarmieren und diese gegebenenfalls zum finalen Schuss ermächtigen. Doch nach wie vor misst die Politik mit zweierlei Maß.

Die pazifistischen Kreise, die mich zwischen 1966 und 1972 prägten, weigerten sich, zwischen Zivil- und Kriegsethik zu unterscheiden und proklamierten die Gewaltfreiheit. Diese verstanden sie nicht als dogmatische Gewaltlosigkeit, sondern als abgestufte Gegenwehr gegen Aggressoren. Einer ihrer Theoretiker, der Berliner Soziologe Theodor Ebert, dachte sogar an die Aufstellung von Einheiten zum zivilen Widerstand. Über das Für und Wider haben wir damals heftig gestritten. Doch niemand hätte an die Rationalität von Mächtigen appelliert, die den Rest von Vernunft längst dem Willen zur Macht untergeordnet hatten.

Wenn ich das, was ich oben skizziert habe, zusammendenke, verstehe ich die angesichts des Überfalls auf die Ukraine proklamierte Friedfertigkeit nicht. Dabei ist mir die Gefahr einer weiteren Eskalation durchaus bewusst. Aber wenn die atomare Abschreckung zu einem Freibrief geworden ist für eine grenzenlose konventionelle Gewalt, die sich unterhalb der nuklearen Schwelle vollzieht, haben wir alle nichts aus der Vergangenheit gelernt.

Präsident Macron wollte Putin, der menschliches Leben mit Füßen tritt, sogar eine gesichtswahrende Umkehr ermöglichen. Nein, die Politiker der westlichen Demokratien haben derzeit vorrangig nur eine Aufgabe. Sie müssen die totale Katastrophe Putins vorbereiten und militärisch und politisch durchsetzen. Hierzu ist auch die Unterstützung der russischen Opposition notwendig, die Putin unnachsichtig verfolgt und von denen er einige Vertreter ermorden ließ. Aus ihren Reihen muss eine künftige Regierung Russlands hervorgehen, nur mit ihr könnte über Frieden und Zusammenarbeit verhandelt werden.

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Putin übte in Grosny den totalen Krieg
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