als Richter deutschlandSerie: DER LANGE SCHATTEN VON LEMBERG. Deutsch-ukrainische Partnerschaft unter dem Hakenkreuz, Teil 4/4

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Zwei Namen dürfen nicht unkommentiert bleiben, weil sie ein bezeichnendes Licht auf die Denkweisen der deutschen Nachkriegsgesellschaft werfen. Da ist zunächst Erich Nellmann, der mit seinem Vorschlag zur Schaffung einer zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen einen wichtigen Beitrag zur juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen geleistet hat. Derselbe Erich Nellmann zeigte sich zwei Jahre später gegenüber einem der schlimmsten Nazirichter von grenzenloser Milde und Nachsicht.

Gegen den ehemaligen Richter am Berliner Sondergericht und am Volksgerichtshof, Dr. Paul Reimers, inzwischen wieder Landgerichtsrat beim Landgericht Ravensburg, war am 4. Januar 1958 Anzeige wegen Mitwirkung an 120 Todesurteilen erstattet worden. Der Stuttgarter Generalstaatsanwalt lehnte es bis auf vier Einzelfälle ab, gegen Reimers Anklage zu erheben, und stellte das Ermittlungsverfahren in den anderen 116 Fällen ein. Dabei war, wie Nellmann einräumte, an der Echtheit der Unterlagen »zu zweifeln kein Anlass gegeben«. Der Richter blieb ungeschoren, weil sich der Generalstaatsanwalt die Ansicht des Bundesgerichtshofes zu eigen machte, ein Beschuldigter könne wegen richterlicher Mitwirkung an einem Todesurteil nur belangt werden, wenn ihm vorsätzliche Rechtsbeugung nachgewiesen werde. Da dieser

Nachweis ein Geständnis voraussetzt, hatten die ehemaligen Nazirichter den Gang der Dinge stets selbst in der Hand. Gestanden hat keiner. Kein einziger Richter am Volksgerichtshof ist jemals rechtskräftig verurteilt worden – auch Paul Reimers nicht.

Dem Stuttgarter Generalstaatsanwalt unterliefen in seiner Einstellungsverfügung vom 17. Juni 1960 denkwürdige Formulierungen, die unversehens den Blick auf die Seelenabgründe ihres Urhebers frei geben. So schrieb Nellmann:  »Soweit Juden verurteilt wurden, liegt es nahe, dass sich die Zugehörigkeit der Angeklagten zu einem Volke, das damals allgemein für minderwertig gehalten wurde und das unter Sonderrecht gestellt war, im Strafausspruch ausgewirkt hat.« An anderer Stelle heißt es: »Auch wenn man den genauen Beitrag des Beschuldigten zu diesem Urteil kennen würde, so müsste man ihm doch wohl zugutehalten, dass er aus einer gewissen Rechtsblindheit gegenüber den menschlichen Problemen, die solche Fälle aufweisen, für die Todesstrafe stimmen zu müssen geglaubt hat.« So argumentierte ein angesehener Jurist, der zur Untermauerung seines Verlangens nach konsequenter Verfolgung der KZ-Schinder und Judenmörder noch kurz davor den biblischen Spruch ins Feld geführt hatte: »Wir dürfen nicht Mücken seihen und Kamele schlucken.«

Wenden wir uns zum Schluss Erwin Schüle zu, dem ersten Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, der sich als Ankläger im Ulmer Einsatzkommandoprozess einen Namen gemacht hatte.. Als es darum ging, für die geplante neue Behörde einen geeigneten Juristen zu finden, brachte Generalstaatsanwalt Nellmann sofort Erwin Schüle als den Mann ins Gespräch, der – wie er formulierte – mit »aller rechtsstaatlich zulässigen Härte« gegen die NS-Mörder vorgehen werde. Auch der Ministerialdirigent im Stuttgarter Justizministerium und spätere Generalbundesanwalt Dr. Kurt Rebmann lobte die Sachkunde des schwäbischen Juristen. Schüle erfüllte alle Erwartungen. Schon bald war er über die Grenzen Deutschlands hinaus als entschlossener Verfolger nationalsozialistischen Unrechts bekannt. Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Dr. Nahum Goldmann, äußerte sich gegenüber Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger voll des Lobes und regte sogar an, Schüle wegen seiner Verdienste mit einer Beförderung zu belohnen. Was Goldmann und viele andere nicht wussten – der Leiter der zentralen Behörde zur Ermittlung von Beteiligten an Verbrechen des NS-Regimes war Mitglied jener Partei, in deren Namen und unter deren Verantwortung diese Verbrechen begangen worden sind.

Die Öffentlichkeit erfuhr davon am 4. Februar 1965 durch eine Meldung der Ostberliner Nachrichtenagentur ADN. Nun stellte sich auch heraus, dass alle für die Berufung Schüles Verantwortlichen von Anfang an über dessen ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft informiert gewesen waren – angefangen vom baden-württembergischen Justizminister Dr. Wolfgang Haußmann, über den damaligen Bundesjustizminister Fritz Schäffer bis hin zu allen Landesjustizministern und -senatoren. Keiner von ihnen hatte in Schüles NS-Vergangenheit ein Hindernis gesehen. Als sich der Leiter des Ludwigsburger Dienststelle Ende August 1966 von seinem Posten entbinden ließ, waren unter seiner Verantwortung mehr als 1.000 Vorermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NS-Mörder abgeschlossen und zur weiteren Behandlung den jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften zugeleitet worden. So als ahnte er, was eines Tages auf ihn zukommen könnte, hatte Schüle während des Ulmer Prozesses einmal beiläufig: bemerkt: »Es ist schon so, dass wir alle mit uns ins Gericht gehen müssen, weil wir damals alle feig waren.«

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Als Richter vor Gericht standen
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Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Verfassers aus Conrad Taler, Gegen den Wind, PapyRossa Verlag, 2017