Bildschirmfoto 2022 11 12 um 00.08.43Das Jüdische Logbuch Anfang November

Yves Kugelmann

New York (Weltexpresso) - «Are you Jewish?» Der junge Mann im schwarzen Anzug mit Bart und Hut fragt an der Ecke Broadway und Broom Street im New Yorker Stadtteil Soho Passanten nach der Religion. Männer, Frauen, Asiaten, Afro-Amerikaner und so fort. In der linken Hand hält er Tefilin, in der Rechten einen Talit. Man ist sich nicht sicher, ob der junge Mann schon für den Halloweenabend kostümiert ist oder jeden Tag illuminiert dasteht.

100 Meter weiter lüftet ein überdimensionierter «Mitzvah Tank» letzte Geheimnisse, ein rund 15 Meter langes umgenutztes Wohnmobil. Auf der Rückseite winkt der verstorbene Lubawitscher Rebbe Menachem Mendel Schneerson. Darunter die Schlagzeile «Moshiach is coming now». Der Lubawitscher Tefilin-Prediger ist also echt. Was im New Yorker Lebensgefühl zwischen Humor, Wahnsinn, Vielfalt und Missionaren jeglicher Provenienz geradezu zur Normalität gehört, fällt zumindest aus dem jüdischen Rahmen. Auf der Rückseite der gelben Ampeln verkünden quer durch Soho Aufkleber: «Messiah is here – Long live the Lubavitcher Rebbe». Spätestens hier gehen Chabad und Scientology nahtlos ineinander über – Kult, Kultus, Chuzpe und ein wenig Götzendienst mit Augenzwinkern ergänzen das Straßenbild Manhattans im Wahlkampf.

Lee Zeldin, selbst jüdisch und verheiratet mit einer Mormonin, macht in diesen Tagen Schlagzeilen. Der Republikaner aus dem Dunstkreis Donald Trumps und seines ehemaligen Kampagnenleiters Steve Bannon wettert heftig gegen Abtreibung und die liberale Gesellschaft. In New York mit Blick gerade auch auf die orthodoxe jüdische Bevölkerung allerdings ein ambitioniertes Wagnis als Governeurs-Kandidat. Die Pandemie hat New York stark mitgenommen, anders als in Europa sind die Einschläge überall zu sehen. Die gesellschaftliche Kluft hat sich vergrößert, viele Geschäfte sind geschlossen oder Räume zur Miete ausgeschrieben, in Bürogebäuden arbeiten immer kaum 20 Prozent der Angestellten. Homeoffice bleibt angesagt. Die Straßen hingegen sind noch bunter geworden und gleichen einer Art Dauer-Sukkot. Vor den Restaurants stehen Holzhütten mit drei Wänden, Richtung Trottoir geöffnet. Überbleibsel der Pandemie, die nun zu heftigen Diskussionen Anlass geben. Die Behörden fordern den Rückbau, die Gastronomie verlängerte Bewilligungen. Die Temperaturen sind mild und das Leben spielt sich auf der Straße ab.

Der Park am Washington Square gegenüber der New-York-Universität ist knallvoll. Seit der Liberalisierung von Cannabis ist der Süden Manhattans geradezu mit «Gras» parfümiert. Am Eingang eines NYU-Gebäudes in der Thompson Street sitzt ein junger Mann und lässt sich Torten ins Gesicht schmeissen. Die besondere Art, Geburtstag zu feiern und die Frage aufzuwerfen, was eigentlich Sinn ist. Durch die Strassen fahren überdimensionierte Autos, New Yorks Indi- vidualismus zeigt auch an den Tagen nach dem Halloweenirrsinn ein diverseres Straßenbild als vielerorts in Europa – doch es ist längst nicht mehr in Einklang zu bringen mit dem Amerika zwischen Florida und Kalifornien. Religiöser Fanatismus, nationaler Extremismus und politischer Radikalismus fordern ihren Tribut. Jüdische Verbände in den USA warnen vor dem grassierenden Antisemitismus und einer pulsierenden neonazistischen Szene. In Amerika sind viele neue Messiasse unterwegs. Auf den Fernsehkanälen mischen evangelikale Missionare ganz vorne mit und betreiben in den Tagen vor den Midterms Wahlkampf für die Republikaner – deren Parteiname allerdings in die Irre führt. Unter Trump haben sie sich derart radikalisiert, dass für Europäer eine amerikanische Mitte gar nicht mehr auszumachen ist.

Da passt auch die Off-Broadway-Premiere eines Musicals über Leo Frank. An ihm soll 1915 der einzige Lynchmord an einem Juden verübt worden sein, eine Art amerikanische Dreyfus-Affäre, die bereits 1913 bei seiner Verhaftung wegen einer Mordanklage im Zuge des aufkommenden Antisemitismus in Amerika zur Gründung der Anti-Defamation League führte. David Mammet schrieb einst darüber, und nun kommt das Stück wieder auf die Bühne. 1952 wurde Frank post mortem begnadigt. 70 Jahre später liest sich das Stück im Kontext von Verschwörungstheorien und einem Antisemitismus in den USA, den viele nie für möglich gehalten haben, nochmals anders .

Das liberale New York, die eigentliche Hauptstadt der Juden, rückt die Sinnfrage nochmals anders in Erinnerung. Können Jüdinnen und Juden nur in solchen Städten in Freiheit leben? Im Tumult von Diversität, Wahn- und Unsinn? Die Diversität bleibt der Sauerstoff gegen Ausgrenzung in einer Stadt, in der Minderheiten in Mehrheiten aufgehen, neben- und selten miteinander leben. Der ganze Unsinn macht hier vielleicht wieder Sinn – wenn da nicht die ökologische Frage wäre. Amerika wird der Motor der Welt bleiben, kulturell, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Das Gegenkonzept muss erst noch erfunden werden von jenen, die es bekämpfen und deren Bevölkerungen immer noch nur ein Ziel haben: den amerikanischen Traum zu leben. Sinnlos. Aber irgendwo wird das Sinn machen müssen. Im Guggenheim Museum zeigt die Retrospektive zu Alex Katz dann wiederum die Kraft des amerikanischen Traums, den auch der 6. Januar und die Capitol-Erstürmung durch den faschistischen Trump-Mob nicht überlagern kann. 1927 als Kind russisch-jüdischer Einwanderer geboren, ist er prägende Figur des modernen Realismus, die Ausstellung imposant inszeniert. Orte als Gegenkonzept zum neo-republikanischen Amerika.

Der Morgen beginnt mit Blues im Café im East Village. Die Wahlen in Israel sind entschieden. Strahlend blauer Himmel. Im Radio Blues voller Zuversicht. Doch Amerikas Juden, die jüdische Diaspora weltweit wird mit der neuen Regierung noch stärker konfrontiert. Die liberalen Werte, für die sich die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft seit Jahrzehnten starkmacht, werden torpediert durch faschistoiden Rechtsextremismus, der zumindest zum Wahlsieg der israelischen Rechten geführt hat. Gleichberechtigung von Menschen unabhängig von Religion und Herkunft wird in Frage gestellt, Todesstrafen wieder neu gefordert, die Gewaltherrschaft von Staat und Justiz rückständig formuliert. «Are you Jewish?» hat im Israel dieser Tage auf einmal eine neue Bedeutung. Mag vieles noch als banaler Populismus abgetan und darauf verwiesen werden, dass es in Realität ganz anders kommen mag: im Moment reiht Israel sich mit Abstrichen in die europäischen Wahlergebnisse von Rechtspopulisten und Neofaschisten ein. Am Abend in Princeton, an der Universität, an der Albert Einstein nach seiner Emigration seine letzte Wirkungsstätte fand und 1955 verstarb. Einstein, seit den 1920er Jahren Mitglied der zionistischen Welt, lehnte 1952 ab, Israels Präsident und somit Nachfolger von Chaim Weizmann zu werden. Seiner Tochter sagte er später: «Wenn ich Präsident wäre, würde ich dem israelischen Volk manchmal Dinge sagen müssen, die die Menschen nicht gerne hören würden.» Der Nachlass Einsteins liegt in Jerusalem, darunter seine Schriften über den Austausch mit Weizmann als Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation in den 1920er Jahren auch zur arabischen Frage.

«Are you Jewish?» ist in Israel längst keine kulturelle, historische, sondern eine nationalistische Frage geworden. Eine, die auf einmal zwischen Juden in und außerhalb Israels steht. Zurück in Manhattan ist der amerikanische Wahlkampf überall präsent. Vom Krieg in der Ukraine ist nichts zu hören, bis auf die Solidaritätsposter an der ukrainisch-orthodoxen Kirche kommt der Krieg nicht vor. Nur Schneerson blickt von allen Richtungen auf die Passanten, und auf den Nachrichtekanälen werden die Wahlergebnisse in Israel und die amerikanische Reaktion darauf verhandelt. Zwischen New York und Jerusalem zeigt sich wieder einmal die Bandbreite der jüdischen Fragen, auf die Juden weltweit neuerdings gute, hoffentlich die richtigen Antworten werden finden müssen.

Foto:
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 4. November 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.