Die Affäre Aiwanger und die Verharmlosung des Antisemitismus
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - In der Affäre um den bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger triumphiert eine Art von Öffentlichkeit, die anderswo als Bierzeltkultur abgetan würde. Landauf und landab wird der Vorsitzende der Freien Wähler in diesen Räumlichkeiten umjubelt und gefeiert wie ein Popstar.
Er spule ein Programm ab, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“, mit dem Aiwanger die Bierzelte seit Monaten zum Tosen bringe. Es sind dieselben Themen, die auch bei der AfD dominieren. Die Berichterstattung über sein umstrittenes Verhalten im Streit um ein antisemitisches Flugblatt nennt er ein „schmutziges Machwerk“. Noch ehe der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verkünden konnte, dass er an seinem Stellvertreter festhalten werde, verkündete Aiwanger vor seinen Anhängern seinen politischen Sieg. „Ich sage Ihnen voraus, Bayern wird weiter von CSU und Freien Wählern regiert“. In Keferloh rief er den Besuchern hinter den Bierkrügen zu: „Wir werden durch diese Kampagne gestärkt werden, wir haben ein sauberes Gewissen“.
Im niederbayerischen Karpfham habe er einen Satz gesagt, bei dem man wieder einmal nicht gewusst habe, ob das jetzt ein Schuldeingeständnis sei oder Selbstverklärung oder ob da einer wirklich nicht verstehe, warum alle so einen Rummel machten um ihn und dieses Flugblatt. “Jawohl, auch ich habe in meiner Jugend Scheiß gemacht“, sagte er trotzig. Im Grunde sei das eine Frage gewesen: Ihr etwa nicht? Und die Leute hätten mit Beifall beantwortet. Sie sähen in Aiwanger einfach nur den Kumpel, der –wie Aiwanger behauptet - 35 Jahre nach einer Jugendsünde „fertiggemacht“ werden solle. Diese Leute müsse man ernst nehmen.
In der CSU-Spitze glaubt nach Darstellung der Süddeutschen Zeitung niemand an die Ausreden Hubert Aiwangers. Aber dort sei allerdings ein noch viel mächtigeres Gefühl zu spüren gewesen: Die Höllenangst, „dass ein geschasster Aiwanger das Land anzündet.“ Der Vorsitzende der Freien Wähler genieße an der CSU-Basis große Sympathien. Söder handelt mit seinem Festhalten an Aiwanger aus purer Angst vor dem Verlust der politischen Macht. Aber die Folgen der Entscheidung, die Söder schließlich getroffen habe, könnten nicht weniger verheerend sein, meint die Süddeutsch Zeitung. Die Affäre Aiwanger dokumentiere, wie glimpflich man in Deutschland plötzlich mit der Verhöhnung der Opfer des Holocaust davonkommen könne. In Bayern scheint der Boden besonders morastig zu sein. Im vergangenen Jahr wurden dort 422 antisemitische Vorfälle registriert. Das spricht nicht gerade für politische Wachsamkeit gegenüber neonazistischen Bestrebungen.
Die Verharmlosung des Antisemitismus hat eine lange Vorgeschichte, die man nicht aus dem Blick verlieren sollte. Hat die in Bayern seit ewigen Zeiten regierende CSU immer genug getan, um dem grassierenden Antisemitismus entgegen zu treten? Als Mitte der 1980er Jahre wieder einmal eine Welle antijüdischer Exzesse über die Bundesrepublik schwappte, wollte die Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger von der SPD im Bundestag wissen, „welches geistige und politische Klima solche Sumpfblüten gedeihen“ lasse. Das Interesse an der Erörterung des Themas war nicht groß. Vor fast leerem Haus wandte sich Bundeskanzler Helmut Kohl am 27 Februar 1986 gegen Gedankenlosigkeit und appellierte an die Öffentlichkeit, die NS-Verbrechen niemals zu vergessen. Aber die Proportionen müssten gewahrt werden. Es gehe entschieden zu weit, von aufkeimendem Antisemitismus zu sprechen.
Das Allensbacher Institut für Demoskopie ermittelte, dass damals fünfzehn Prozent der Deutschen den Juden gegenüber feindlich eingestellt gewesen seien. 66 Prozent der Befragten hätten erklärt, es müsse endlich ein Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit gezogen werden. Alarmierende Meldungen über zunehmenden Antisemitismus an den Westberliner Schulen veranlassten den Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, im Fabruar 1988 auf einer Sondersitzung des parlamentarischen Schulausschusses im Abgeordnetenhaus davor zu warnen, die antijüdischen und ausländerfeindlichen Ausschreitungen weiterhin zu vertuschen.
Als die amerikanische Serie „Holocaust“ in der Bundesrepublik gezeigt wurde, kritisierte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, dass „mit propagandistischen Mitteln eine Hysterie gegen einen angeblichen Rechtsradikalismus betrieben werde, der jedoch in Umfang und Heftigkeit mit dem Linksradikalismus überhaupt nicht zu vergleichen“ sei. (Welt am Sonntag, 28. Januar 1979). Der bayerische Innenminister Gerold Tandler (CSU) behauptete, zahlreiche neonazistische Aktionen seien vor allem durch die Fernsehserie „Holocaust“ ausgelöst worden. Von dem Einwand der Humanistischen Union, wahre Ursache sei die „befremdliche Nachsicht der bayerischen Landesregierung gegenüber rechtsradikalen Bestrebungen“, wollte Tandler nichts wissen.
Auf dem 37. Historikertag 1988 in Bamberg warnte Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor Vergleichen der Naziverbrechen mit anderen Verbrechen. „Auschwitz bleibt singulär“, erklärte er „Es geschah im deutschen Namen durch Deutsche. Diese Wahrheit ist unumstößlich.“ Das sagte der Bundespräsident im selben Jahr, in dem Helmut Aiwanger nach Angaben seines Bruders Hubert das Auschwitz-Pamphlet verfasst har. So wie es aussieht, handelt es sich beim Umgang mit einem antisemitischen Hetzblatt nicht um eine lässliche Jugendsünde, sondern um einen groben Sündenfall, mit dem Hubert Aiwanger seine Eignung für ein Regierungsamt verloren haben sollte.
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