Eine doppelte Lesung von Ulrich Tukurs DIE SPIELUHR: im Literaturhaus Frankfurt und als Hörbuch, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ärgerlich. Die S-Bahn hat 12 Minuten Verspätung. Zwei Minuten nach 20 Uhr, also 2 Minuten zu spät, betrete ich den Saal des Literaturhauses zur Lesung des Schauspieler Ulrich Tukur von Tukurs eigenem Buch DIE SPIELUHR. Warm ist es und gerammelt voll und aus Erfahrung weiß ich, daß - wenn überhaupt ein Platz frei - der vorne in der ersten Reihe ist. Also los. Nach zwei Schritten verstummt der lesende Alleskönner Ulrich Tukur.

 

Erst Schweigen. Dann vom Podium: „spät kommt sie, doch sie kommt“. Nein, ich stolpere unter den Blicken des Vorlesers und des Publikums nicht. Und werde auch nicht rot. Aber angenehm ist etwas anderes. Noch immer kommentiert Tukur verbal und mimisch auf dem Podium mein Kommen. Also, das ist doch die Höhe. Wie spielt der sich auf und führt mich hier vor, wo Zuspätkommen und durch einen ganzen Saal gehen, schon für sich nicht angenehm ist. Weiteres Schweigen.

 

Und dann verfolgt sein Blick jeden meiner Schritte und sein Blick ändert sich, erst schaut er faunisch, dann richtig mefistophelisch, wie er das besonders gut kann, in meine Richtung, räuspert sich, setzt an, unterbricht sich selbst. Das sieht ja inzwischen schon wie ein Teil seiner Inszenierung vom Podium aus. Ich finde nämlich genau den einen freien Platz in der ersten Reihe und tauche ins Publikum ein. Beim Hinsetzen fragt der eigentlich Lesende und nun noch immer Schweigende leise und stimmlich fürsorglich und doch hundsgemein „Soll ich noch einmal von vorne anfangen?“. Das „Nein“ liegt mir auf der Zunge, denn ich kenne sein Buch ja schon und will dies arrogant zurückgeben.

 

Das „Ja“, liegt mir genauso auf der Zunge!, schon um diesem Naseweis da vorne eins zurückzugeben, womit er erst einmal umgehen muß, aber blitzartig habe ich eine andere Idee, mache den Mund auf und... da fährt Ulrich Tukur mit dem Lesen fort, ach was, das merke ich gleich, er liest nicht den mir bekannten Text, sondern erfindet den eigenen Text aufs Neue, inszeniert die Worte lustvoll, preßt sie hervor, hält sie zögerlich zurück, schleudert sie in die Menge und kann zudem die Stimmlage exakt der jeweiligen Situation anpassen: er fiept, er gurrt, er wispert, er drischt drauf, er liebkost mit der Stimme die Personen, die es ihm in seinem eigenen Stück angetan haben und bestraft die anderen.

 

Um was es geht? Verwickelt und doch einfach. Ulrich Tukur hatte im Jahr 2008 in einem französisch-belgischen Spielfilm mitgespielt. Da konnten sie einen blonden Deutschen gut brauchen, denn in SÉRAPHINE spielt Tukur den deutschen Kunstsammler und -händler Wilhelm Uhde aus Brandenburg, der 1904 aus deutscher Kunstenge heraus nach Paris geht und dort u.a. Picasso und Braque kennenlernt und kauft, Ausstellungen macht, die Frau heiratet, von der er schnell wieder geschieden ist und die als Sonja, Künstlerin und Ehefrau von Robert Delaunay bekannt wird, während Uhde später seiner eigentlichen Neigung zu Männern folgt.

 

Er muß mit dem Ersten Weltkrieg Paris verlassen, seine Kunstsammlung wird beschlagnahmt...was wäre es doch interessant, dieses Leben weiterzuverfolgen. Aber hier geht es um SÉRAPHINE, das ist Séraphine Louis, die von Wilhelm Uhde in Frankreich um 1912 als Malerin entdeckt wird, wie er auch gut als Entdecker von Henri Rousseau und anderen Naiven gelten kann. Der Film SÉRAPHINE wurde in Frankreich ein Riesenerfolg,mit sieben César bekrönt,und wir stellen uns vor, daß Ulrich Tukur dort bei den Drehaufnahmen auf dem Land und in leicht verfallenen Herrschaftssitzen eine Luft, eine Atmosphäre vorfand, die ihn inspirierte, sich die Geschichte weiterauszudenken – und das doppelt und dreifach. Die der Filmfiguren Séraphine und Wilhelm Ude und die des Erzählers, des Schauspieler Ulrich Tukur und des Filmteams, von dem Chef Philippe seinen Assistenten Jean-Luc zum Entwickeln der Filme nach Paris schickt. Wo er nicht ankommt, stattdessen mit einer abenteuerlichen Geschichte nach drei Tagen am Set wiederauftaucht...

 

Ab hier wechseln die Ebenen, die Zeiten, die Perspektiven, die Personen unaufhörlich und gehen miteinander eine Melange ein, die uns erinnern an unser Vergnügen mit der Phantastischen Literatur, von der heute wenig sprechen und die dann immer mit Fantasy in einen ganz falschen Topf geworfen wird. In was uns Ulrich Tukur hineinzieht in dieser Lesung im Literaturhaus, doch besser: in seiner Novelle, ist das Reich der Zwischenwelten, ein Paralleluniversum. In jüngster Zeit hat das ganz phantastisch (!) Nina Maria Marewski mit DIE MOLDAU IM SCHRANK fertiggebracht, mit der wir zur Buchmesse 2011 ein Interview hatten, an das wir beim Hören der SPIELUHR heftig denken müssen und uns fragen, ob es bei ihr neuen Lesestoff mit Parallelwelten gibt.

 

Ahnherr neuerer Zeit der Phantastik sind auf jeden Fall Hanns Heinz Ewers und auch Leo Perutz. Ersterer beschrieb mit ALRAUNE 1911 ein weibliches Wesen, das den Männern Verderben bringt. Sie ist ein Nachtschattengewächs besonderer Art und an sie müssen wir denken, als Ulrich Tukur zur titelgebenden Spieluhr kommt. Auf der sitzt eine Tänzerin, die … Fortsetzung folgt.

 

 

Foto: Nein, Sie sehen hier nicht den Autor noch Vorleser. Das von Robert Delaunay gemalte Bild zeigt Wilhelm Uhde, den Ulrich Tukur im Film darstellt und der als seine Rolle durch den Roman geistert. Delaunay malt also den ersten Mann seiner Frau Sonja, schön bunt im Stil der Zeit

 

INFO I:

Hinten im Buch ist die Buchanzeige: Ulrich Tukur, Die Seerose im Speisesaal. Venezianische Geschichten. Die zu lesen werden wir nachholen. Tukur steht in sehr ehrenwerter Gesellschaft. Denn die Seite weiter wird DIE WAND annonciert, jener hinreißender und tief berührender Roman der oberösterreichischen Hausfrau, die als Schriftstellerin erst nach ihrem Tod reüssierte. Dieser eigentlich unverfilmbare Roman wird durch die Schauspielkunst der Martina Gedeck auch zu einem überzeugenden Film: DIE WAND. Und dabei fällt uns ein, daß Ulrich Tukur, der ja auch als Felix Murot ein hessischer, ein Wiesbadener Tatortkommissar ist, DEN TATORT: WIE EINST LILLY mit Martina Gedeck spielte. Es gibt wirklich keine Zufälle.

 

 

INFO II:

 

Ulrich Tukur, Die Spieluhr. Eine Novelle nach einer wahren Begebenheit, Ullstein Verlag

 

Ulrich Tukur liest: Die Spieluhr, ungekürzte Autorenlesung, 3 CDs, Laufzeit 225 Minuten, Hörbuch Hamburg

 

Erste Buchbesprechung:.

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/2120-die-spieluhr-aus-dem-ullstein-verlag

 

 

Interview mit N.M.Marewski

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/136-drei-schoene-helenas-in-parallelwelten-oder-auch-frankfurt-an-der-moldau