Serie: Schweizer Buchpreis und BuchBasel 2013, Teil 3/8

 

Claudia Schulmerich

 

Basel (Weltexpresso) – Hatten wir bei den fünf Nominierten deren Namen gebracht, so sollen heute bei der inhaltlichen Würdigung der ausgewählten Werke die Titel im Vordergrund stehen, denn eigentlich gelten die Preise den Werken, ihre Verfasser nehmen für diese nur die Preise entgegen.

 

Wie meist, nein, nicht immer, sind wir nicht unzufrieden damit, daß wir nicht wie die Jury das beste Buch auswählen müssen, denn was ist schon das Beste? Daß wir nicht nach Qualität lesen, sondern interessengebunden, ist eine solche Selbstverständlichkeit, daß wir nie darüber reden. Es gibt einfach Themen, die einen mehr interessieren als andere, gut geschrieben sollte alles sein. Diese fünf Bücher nun sind – wieder einmal – so unterschiedlich, daß es einem vorkommt, wie der Vergleich von den Äpfeln und mit den Birnen.

 

Wir haben zuerst zu Ralph Dutli und SOUTINES LETZTE FAHRT aus dem Wallstein Verlag gegriffen. Erstens lag es schon da, weil der in Deutschland lebende Schweizer damit auf der Zwanziger Liste zum Deutschen Buchpreis stand, und zweitens war in Verbindung mit dem Umschlagbild klar, daß es sich um die letzte Fahrt von Chaim Soutine handeln muß, dem bedeutenden Exilmaler, dessen Bilder so oft Aufgerissenes zeigen, wo die Farben zum Ausdrucksträger der Stimmung werden. Hier malt er den Konditorjungen von Céret, aus dem Jahr 1919, wo er lange lebte in den Pyrenäen. Soutine kennen wir durch die vielen Frankreichaufenthalte und einige Ausstellungen recht gut, vor allem aber war er ein enger Freund des so früh verstorbenen Amedeo Modigliani, der ihn gemalt hatte, Soutine ihn aber nicht, wie wir im Roman lesen, was uns vorher nicht aufgefallen war, hat doch gerade Soutine außen den Tierkadavern, die ihn berühmt machten, vor allem Porträts neben den vielen Landschaften gemalt.

 

Erst einmal staunen wir über den Mut des Autors, aus einem wirklichen Leben eine Mischung von Wirklichkeit und den eigenen Vorstellungen von einem fremden Menschen zu machen und über Worte in einen Roman zu gießen. Sich anverwandeln nennt man solche Vorgänge, wenn ich etwas Außenstehendes zu meiner eigenen Sache mache. Dutli beschränkt sich auf die letzte Fahrt, die nämlich, die der vor den Deutschen versteckt lebende weißrussisch-jüdische Maler machen muß, in dem er, in einem Leichenwagen versteckt, 1943, 50 Jahre alt, zur notwendigen Magenoperation in eine Pariser Klinik gefahren wird. Auf dieser letzten Fahrt – so ist das gerne, wenn es ans Sterben geht – gehen ihm in Fetzen, in Bruchstücken und Bildern sein Leben durch den Kopf und die Menschen, an denen er hing oder auch nicht.

 

Daß Soutine nach 1913 aus Weißrussland nach Paris ging, hat die Gründe negativ in der bitteren Armut im Schtetl nahe Minsk und der Unduldsamkeit, mit der ihm seine orthodoxen Eltern das Malen verbieten, genauso wie positiv in der Anziehung dieser damaligen Weltkunststadt, die schon dadurch aufgeht, daß Marc Chagall und Ossip Zadkine schon da sind, wenn er in der dortigen Künstlerkolonie 'La Ruche' eintrifft. Wir wollen Soutines Leben jetzt nicht erzählen, auch nicht in den Assoziationen, die Dutli im Fieberwahn, beim Aufwachen und Einschlafen aus der Tiefe der Erinnerung holt. Wir wollen ein wenig zweifeln, wenn er die Frauen sortiert, von denen die eine oder andere auch seine Geliebte war, wie Jeanne Hébuterne, die von Modigliani schwanger, sich nach dessen Tod im Januar 1920 aus dem Fenster stürzte, was auf Seite 140 so wirkt, als sei Soutine dabei gewesen, habe sie von der Straße aus abhalten wollen. Dabei ist das wirklich läßlich, ob er dabei war oder nicht, denn 23 Jahre später, als sich ihm die Erinnerung in der Pariser Straße aufdrängt, geht es um die Verantwortung, die er fühlt und die er so fühlt, als sei er ihr nicht nachgekommen. Wie war das mit Gerda, seiner deutschen Geliebten, die für ihn 'Garde' wurde, die die Nazis 1940 in Gurs internierten hatten und wie das als tyranisch-mutterhaft dargestellte Verhältnis mit Ma-Be, das ist Marie-Berthe Aurenche, die als Exfrau von Max Ernst hier ihr Fett abkriegt. Und was ist nun wirklich mit der angeblichen Tochter, die er (ver)leugnet?

 

Welche Hoffnung liegt auf dem Philanthropen, Arzt und Unternehmer Barnes aus Philadelphia, der in Paris Cezannes aufkauft, aber auch die Gemälde von Soutine durch seine Ankäufe für andere interessant macht. Also hat die Not ein Ende, aber die Not ist nicht allein finanzieller Art. Da zieht sich durch das Buch ein Schuldgefühl, ein Versagensgefühl, das eigentlich etwas Christliches hat. Und warum zerstört er so viele seiner eigenen Werke? Dutlis Roman stellt so viele Fragen, wie sie durch Soutines letzte Fahrt erst recht virulent werden. Beantworten kann sie niemand.

 

Im übrigen ist auch dieser Roman ein Debüt, mit dem Unterschied, daß dies nur für die Gattung ROMAN gilt, denn Dutli hat schon vielfach veröffentlicht und ist als Mandelstam-Biograph und Herausgeber der zehnbändigen Ossip-Mandelstam- Gesamtausgabe bekannt geworden. Da fällt uns natürlich Robert Littells DAS STALIN EPIGRAMM ein, aus dem Arche Verlag, ebenfalls ein Roman, ein vielstimmiger, wo der – eigentlich Thriller – Autor facettenhaft wiedergibt, was ihm Mandelstams Witwe Nadesha einst über das Leben und Sterben von Mandelstam unter Stalin und dieser seltsamen Freund-Feindschaft erzählt hatte. Littell läßt nämlich, ohne anzugeben, wer gerade spricht, die Protagonisten zu Wort kommen. Also auch eine Methode, sich einem Menschen, einer Zeit anzuverwandeln. Da würde uns interessieren, was Autor Dutli davon hält. Ob er, der Kenner, dies zuläßt, daß Mandelstam im Roman zur Kunstfigur wird, wie Chaim Soutine in seinem Roman?

 

Ralph Dutli, Soutines letzte Fahrt, Wallstein Verlag

 

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