Anna GoldmannDas mit 3000 € dotierte Anne Goldmann-Stipendium 2025 erhält Corinna Kraft für ihr aktuelles Romanprojekt ›Flecken‹

Redaktion

Hamburg (Weltexpresso) - Corinna Kraft: Flecken. Das Projekt: Anruf im Morgengrauen. Tilda Feld wird als Pflichtverteidigerin bestellt. Die Mandantin hat ihren Ehemann erstochen und ist verstummt. Auf den ersten Blick scheint Corinna Krafts Flecken ein Gerichtskrimi mit klassisch feministischer Themen- und Figurenwahl. Doch das Vorhaben der Autorin ist komplexer. Ihre Ich-Erzählerin kämpft auf mehr als einer Ebene um Artikulation genau jener sprachlos machenden Gewalt, die öffentlich unsichtbar bleibt, obwohl sie quer durchs soziale Gefüge erschreckend viele Alltage prägt. Tildas Kompetenz, ihre Kraft, ihr klares Auftreten sind auf verschiedenen Schlachtfeldern mühsam errungen. Auch unter den polierten Oberflächen der Prestigekanzlei lauern soziale Gefälle, blühen Selbstzweifel. Durch scheinbar harmlose Alltagsszenen sickern Machtverhältnisse ins Blickfeld, leise, unbehaglich. Im Rechtswesen wie in der Häuslichkeit sind Routinen und Rituale durchtränkt von Erwartung, Scham, Versehrung. Doch es gibt auch Erkennen, Aufbegehren, Mut und Verbündete: eine empathisch angelegte, packend erzählte Gesellschaftskritik, die scharf hinschaut – und Hoffnung macht.

Die Autorin: Corinna Kraft ist zwischen nordhessischen Hügeln aufgewachsen. Mittlerweile bringt sie in Hamburg-Jenfeld ihren Schüler:innen Englisch und Spanisch bei, ebenso wie kreatives Schreiben und nicht gegen Türen zu treten. In ihren Texten verarbeitet sie eigene Gewalterfahrungen und deren Nachwirkungen. Bei der Nordtext 2023 hat Wolfgang Hörner vom Galiani Verlag sie motiviert, ihre autofiktionalen Fragmente zu einem Romanprojekt auszuweiten. Daran arbeitet sie seit 2024 in Astrid Ules Meisterklasse am Schreibhain und hat erste Auszüge daraus auf der artspring Berlin präsentiert. Wenn sie nicht gerade schreibt, engagiert sie sich für feministische Politik oder bringt ihren Katern Tricks bei.

Anerkennungspreis:

Schon bei Veröffentlichung der SHORTLIST im Oktober haben wir betont, wie hoch das Niveau der eingegangenen Texte war – und wie gern wir die Mittel hätten, viel mehr Romanprojekte zu fördern! Es gibt so viele Autorinnen mit Ideen und Können, die mit im weitesten Sinne kriminalliterarischen Projekten auf die drängenden Fragen unserer Zeit reagieren, und was brauchen wir in diesen gefährlichen Zeiten dringender als mitreißende, gute Erzählungen? – Darum vergeben wir in diesem Jahr zusätzlich zum Stipendium mehrere Anerkennungspreise. Je 500 € gehen an drei Autorinnen mit besonders verheißungsvollen, starken und mutigen Projekten: Hannah Essing für Heimweh, Judith Gridl für Alles gelogen und Aiga Kornemann für Scholle 14.

Hannah Essing – Heimweh

Das Projekt: Wie unterschiedlich sich eine schicke moderne Wohnsiedlung anfühlen kann: Während ihr Liebster hier zunächst aufblüht, ist der neue Lebensmittelpunkt für Ich-Erzählerin Beck eher stressig, der reinste Präsentierteller. Und bald bemerkt sie nächtliche Aktivitäten, die ihr Unbehagen verstärken. Dann geschieht ein Unglück – oder hat da jemand nachgeholfen? Mit stetig wachsender Spannung verdichtet die Autorin Fragen um soziale Mobilität, Umfeld und Erfolgsverheißungen zu einem zugstarken Thriller, der brandaktuelle Themen aufgreift (reaktionäre Rollenbilder, Vereinzelung, Korrumpierbarkeit durch Unsicherheit, Klasse). Die starke Personenzeichnung, die passionierte Kritik an Schubladendenken und die souverän und packend erzählte Story machen unbändig Lust aufs Weiterlesen.

Die Autorin: Hannah Essing ist ein echtes Ruhrpottkind, doch zum Studium zog es sie in die Ferne. Nach einigen Stationen im Ausland lebt sie nun mit ihrem Verlobten und ihrer Katze in Bonn. Ihre Kurzgeschichten und Lyrik wurden bereits in mehreren Literaturmagazinen veröffentlicht. Ihr Debütroman, ein Zypernkrimi, erschien 2024 bei Ullstein, 2025 folgte der Thriller Dein Heimweg. 2024 war sie Gewinnerin des Nachwuchspreises „Harzer Hammer“.

Judith Gridl – Alles gelogen

Das Projekt: Die Geschichte der unversicherten prekären Gastarbeiterin Olga liest sich auf Anhieb dreckig und noir. Wagemutig, grotesk, ungeschönt setzt die Autorin verdrängte Realität in Szene. Zeigt konkretes gegenwärtiges Elend und inhumane Arbeitswelt aus Sicht einer jungen Russin ohne Papiere. Die Sprache kratzbürstig, ungefällig, ohne Pathos, aber zudringlich: Erzählen von unten ohne Aufgesetztheit, in der Tradition von Zola, Cody und Gercke. Die forsch ausgereizte Stimmungsskala von staubtrocken bis abstoßend, dazu rotziger Selbsterhaltungshumor – eine gelungene Zumutung. Und die unzuverlässige, auch unbequeme Perspektive der migrantischen Außenseiterin, die sich keineswegs als Opfer sieht, sägt mit Verve an herrschenden Diskursen. Ein tolles Romanvorhaben.

Die Autorin: Judith Gridl, aufgewachsen im bayerischen Niemandsland an der Grenze zu Österreich, fand früh ihren Fluchtpunkt in der Literatur. Unter einem alten Birnbaum las sie sich durch fremde Welten und lernte dabei, genau hinzusehen. Nach einem Jurastudium in München führte ihr Weg über Paris, wo sie das journalistische Handwerk erlernte, nach Berlin. Als TV-Journalistin schärfte sie ihren Blick für Geschichten, die unter der Oberfläche liegen, für Machtverhältnisse und die Brüche im scheinbar Selbstverständlichen. Diese investigative Neugier prägt auch ihr Schreiben. Heute arbeitet Gridl als Autorin, Drehbuchautorin und Journalistin und betreibt mit Klaus Rathje den Podcast „Berliner Zimmer“.


Aiga Kornemann – Scholle 14

Das Projekt: Was kann Erdie, gealtert, schüchtern und heimlich humorvoll, jetzt noch tun, um sich durchzubringen? Einstweilen hängt sie ein Zimmer frei-Schild ins Fenster „ihres“ Kiosks. Das ruft Ingrid auf den Plan, die ganz anders ist, aber auch in der Klemme steckt, und Rosa, die nicht mal einen Schlafplatz hat: Drei Frauen um die 60, leicht gestört, ungesellig, pleite und vertrauensgeschädigt. Raufen sie sich zusammen, oder lassen sie sich vom teils gewaltbereiten Umfeld aus dem abgeranzten Viertel drängen? Ein federleicht erzählter, doch nie flacher Cosy-Krimi, der ohne Gutbürger und Wohltemperiertheit auskommt, unplakativ Geschlecht und Armut thematisiert und Menschen das Wort erteilt, die sonst im Schatten bleiben. Die Figuren wirken so lebendig, dass sie schier aus dem Text springen. Es geht um Stadtteilleben, alte Frauen, Klasse und Prekariat, um Zusammenarbeit und Solidarität. Authentisch, unterhaltsam, augenzwinkernd.

Die Autorin: Aiga Kornemann ist im Weserbergland geboren und hat sich, nach bunten Jahren jenseits der Provinz, in Ostwestfalen verwurzelt. Dort Ausbildung und Redaktion in einer unabhängigen Wochenzeitung, Zwischenstopp Text und Konzept in einer Werbeagentur, seit 2004 selbständig. Hätte lukrativer sein können, lockte da nicht das Theater, die Lesebühne, das Hörspiel, die freie Kultur. Für die Bonusjahre 60+ hat aigiko sich vorgenommen, von einer Halbtagsautorin mit digitalem Schreibraum ›Kollega!‹ zur hauptberuflichen Schriftstellerin zu reifen. Wann, wenn nicht jetzt? ›Scholle 14‹ ist ihr erster Cosy Crime.

"Glückwunsch an alle vier Autorinnen! Möge es euch gelingen."

Verlegerin und oft auch Übersetzerin der Ariadne-Krimis Else Laudan: "Heute ist der Geburtstag von Anne Goldmann, die uns schmerzlich fehlt, und nun fehlt uns auch noch Doris Gercke. Aber sie beide haben dies hier ermöglicht. Und sie beide würden wollen, dass diese und viele weitere Romanprojekte zu starken Büchern werden. Das wollen wir auch."

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