Ein neues Buch über die Facebook-Gesellschaft

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Literatur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski hat ein Buch über das erfolgreichste der so genannten sozialen Netzwerke geschrieben.


Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte er ein Buch zum gleichen Thema, das er „Data Love“ nannte und in welchem er der Frage nachging, warum Menschen in der digitalen Welt preisgeben, was sie in der normalen, also nichtvirtuellen, eher für sich behalten. Er kam bei seiner Untersuchung zu der Schlusserkenntnis, dass sie das Datensammeln über alles lieben, dieses Verlangen aber auch anderen zugestehen würden und sich folglich mit dem Kontroll- und Überwachungssystem, das den Internetmedien innewohnt, versöhnt hätten.


In seinem neuen Buch „Facebook-Gesellschaft“ versucht er nun zu ergründen, woher diese Leidenschaft für Daten herrührt. Dabei ordnet er die Begierde dem, wie er es nennt, „Narzissmus der Selbstdarstellung“ zu. Er formuliert drei Thesen, die er im Einzelnen untersucht und deren jeweilige Anfechtbarkeiten er offen zugibt:

1. Leute gehen nur zu Facebook, um sich von ihrer inneren Leere abzulenken. Ihre Erlebnisse würden sie anderen aufbürden – aus "Angst vor sich selbst" – und ohne das Erlebte wirklich zu reflektieren. Denn die Facebook-Oberfläche reduziere alles auf eine "spontan episodische" Selbstdarstellung. Eine schlüssige Erzählung des eigenen Lebens sei nicht gefragt.

2. Statt des Menschen erschafft der Algorithmus daraus eine automatisierte, an die Standards des Netzwerksbetreibers angepasste Autobiografie.

3. Das funktioniert zu Lasten des kollektiven Gedächtnisses. Durch Facebook entsteht eine Gemeinschaft jenseits kultureller Werte oder Identitäten, deren Kitt nur noch der Akt des Miteinanderchattens ist.

Auf die Frage, welchen Untertitel er dem Buch gäbe (es besitzt keinen), antwortet Simanowski: „Das Verschwinden der Gegenwart und der Verlust reflexiver Welt- und Selbstwahrnehmung.“ Und er begründet diese Behauptung:
»Meine These lautet, dass die ständige Mit-Teilung des erlebten Augenblicks davon abhält, diesen wirklich zu erfahren. Die (Over-) Sharing-Kultur ist eine hyperaktive Flucht vor einer Welt, die uns zugleich zu leer und zuviel ist. Es ist eine Kamera-Kultur (und zwar auch, wenn man schreibt) im Sinne Kafkas: „man fotografiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen“. Wir entfliehen dem Hier und Jetzt in die Parallelwelt des sozialen Netzwerkes.«

Sämtliche Prämissen werden detailreich erörtert und es werden namhafte Zeugen berufen: Hegel, Jean Paul, Schopenhauer oder Agamben. Hegel nimmt er gar für einen Vergleich in Anspruch:

»Indem Gegenwart archiviert wird, wird sie zugleich verneint, ignoriert, außer Kraft gesetzt; man fällt im Grunde aus der Zeit und zwar nicht obwohl, sondern weil man diese permanent festhält. Das mag an Hegels Begriff der ›Aufhebung‹ erinnern; allerdings fehlt der Dialektik von Negation, Bewahrung und Aufwertung bei Facebook letzteres. Gegenwart wird nicht erkenntnistheoretisch auf eine höhere Stufe gehoben, sondern auf eine niedrigere abgesenkt.«

Das mag dem typischen Facebook-Nutzer vermutlich völlig egal sein. Denn Simanowski schreibt selbst: »Facebook ist so beliebt, weil es erlaubt, die Gesellschaft, die die unsrige ist, zu lieben.«

Und er verweist auf den Philosophen und Politikwissenschaftler Charles Taylor, für den sich eine Kultur allein schon durch die lange Dauer ihres Bestehens legitimiert, und das völlig unabhängig von den Ansichten und Inhalten, die sie vermittelt. Das erinnert dann ebenfalls an Hegels „Alles Wirkliche ist vernünftig und alle Vernunft ist wirklich“ - aber in der völligen Verkehrung der Voraussetzungen.

Die Virtualität von Facebook sei, so Simanowski, der formal gewichtigste Einwand gegen diese Kommunikation. Denn es ersetze die Sprache als Mittel der Kommunikation durch Bilder und verbale Schnappschüsse. Aber lediglich die Sprache besäße die Möglichkeit zur Abstraktion der Wirklichkeit. Und Abstraktion ist notwendig, um Erkenntnisse zu verallgemeinern.

Ein anderer Einwand gegen virtuelle, sprich digitale Wahrnehmung kommt in dem Buch etwas zu kurz. Nämlich die ökonomischen Voraussetzungen und Ziele, die Facebook und andere Netzwerke überhaupt erst ermöglichen: Also den Handel mit persönlichen Daten und dessen derzeit kaum zu übersehenden Folgen. Dennoch lohnt sich die Lektüre.


Info:

Roberto Simanowski
Facebook-Gesellschaft
238 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-95757-057-4
Verlag Matthes & Seitz
Erschienen im Juni 2016
Ladenpreis 20,00 Euro