Bildschirmfoto 2019 02 20 um 23.13.09Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. Februar 2019, Teil 2

N.N.

Paris  (Weltexpresso) - HÉLÈNE GIRAUD & THOMAS SZABO WIE KAM ES ZU EINER FORTSETZUNG VON DIE WINZLINGE – OPERATION ZUCKERDOSE?

Hélène Giraud: Ab der zweiten Staffel der Serie wollten wir das Universum der Winzlinge nach Guadeloupe verlegen. Damals war es ein Wunsch, der aus Budgetgründen ein Traum blieb. Als unser Produzent Philippe Delarue uns vorschlug, den ersten Spielfilm fortzusetzen, war der Moment gekommen.

Thomas Szabo: Die Gestaltung einer Fortsetzung ist nicht einfach. Das Publikum möchte beliebte Elemente aus dem ersten Film wiedererkennen und gleichzeitig neue Dinge entdecken können. Es ist außerdem wichtig, schon zu Beginn der Drehbuchentwicklung auch an ein Publikum zu denken, das den ersten Teil nicht gesehen hat. Die Reise nach Guadeloupe erlaubte es uns, alles zu ändern, eine komplett neue Umgebung einzuführen, und dabei gleichzeitig an den Prinzipien der Winzlinge festzuhalten. 

HG: Wir hielten es für besonders wichtig, die Hauptcharaktere aus dem ersten Film wieder in den Mittelpunkt zu rücken: den Marienkäfer, die Ameise und die schwarze Spinne. Wir haben festgestellt, dass das Publikum ihnen sehr verbunden ist, und ich denke, viele wären enttäuscht, sie nicht wiederzusehen.


DIESER UMZUG DES WINZLINGE-UNIVERSUMS NACH GUADELOUPE ERMÖGLICHTE ES IHNEN AUCH, ANDERE GENRES EINFLIESSEN ZU LASSEN.

HG: Wir bedienen uns bei unseren Filmen gerne verschiedener Genres. Der erste Film hatte Elemente eines Kriegsfilms mit Einflüssen anderer Genres, wie zum Beispiel des Western und Heldenfilms. DIE WINZLINGE – ABENTEUER IN DER KARIBIK ist eine klare Abenteuergeschichte mit all ihren Komponenten: den Gefahren und Freuden des Entdeckens, der Überwindung von Ängsten und der Begegnung mit dem Unbekannten.

TS: Wir wollten an die Atmosphäre der Verfilmungen von Sindbads Abenteuern, wie SINDBADS SIEBENTE REISE (1958) von Nathan Juran, anknüpfen, das damals sehr von Ray Harryhausens Spezialeffekten profitierte. Unsere Charaktere sollten weit genug reisen, so weit, dass sie beginnen, die Grenzen ihrer eigenen Realität zu überschreiten und ins Fantastische einzutauchen. Diese Erfahrung ist ein gemeinsames Thema von Abenteuergeschichten: Als wir die Begegnung der Insekten mit den stechenden Raupen schrieben, dachten wir an das Treffen des Helden aus Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“ mit Colonel Kurtz, diesem seltsamen Charakter, der einsam mitten im Dschungel lebt.


DER MENSCH IST IN DIESEM ZWEITEN FILM VIEL PRÄSENTER.

TS: In DIE WINZLINGE – OPERATION ZUCKERDOSE hatten wir versucht, soweit möglich auf menschliche Protagonisten zu verzichten. In der Serie haben wir Menschen immer nur von hinten oder bis zur Taille gezeigt. Und vor allem haben menschliche Charaktere nie auf das Handeln der Insekten reagiert. Bei DIE WINZLINGE – ABENTEUER IN DER KARIBIK beginnt die Grenze zwischen diesen Welten etwas durchlässiger zu werden, was unseren Wunsch unterstützt, unser Universum zu erweitern.

HG: Wir haben die Regeln von DIE WINZLINGE ein wenig verschoben, jedoch nur zu einem gewissen Grad. Zum Beispiel sprechen die Menschen nicht, sie kommunizieren nur durch ihre Körpersprache.

TS: Wir haben die Schauspieler nach ihrem komödiantischen Gespür ausgewählt. Wir brauchten Schauspieler, die pantomimisch spielen können, was sehr viel schwerer ist, als man sich das vorstellt.


DIESER WUNSCH, DEN MENSCHEN EINZUBEZIEHEN, HAT EINEN STARKEN EINFLUSS AUF DIE INSZENIERUNG.

TS: Es ist wahr, dass diese Entscheidung dem Film eine neue Handschrift gibt, der eine viel aufwendigere Kameraführung erforderte. Wir haben viel mehr Wechsel zwischen den Ebenen: Die Kamera wechselt innerhalb einer Einstellung von der Ebene der Menschen auf die Ebene der Insekten. Diese Übergänge gibt es durchgängig, denn die Welten mussten flexibel miteinander verbunden werden. Wir sind stets bestrebt, ein zusammenhängendes globales Universum zu schaffen.


DARÜBER HINAUS IST DIE INSZENIERUNG DYNAMISCHER ALS IN DIE WINZLINGE – OPERATION ZUCKERDOSE.

TS: Schon beim ersten Film drehten wir mit großen 3D-Kameras, was eine gewisse Statik aufzwingt. Ansonsten realisierten wir DIE WINZLINGE – OPERATION ZUCKERDOSE im Stil der Serie, die in eine Reihe von kürzeren Episoden unterteilt war. Wir griffen den Stil von Tierdokumentationen auf, indem wir den Standpunkt eines Kameramanns einnahmen, der – versteckt inmitten von Gras – Insekten filmt. Bei DIE WINZLINGE – ABENTEUER IN DER KARIBIK wollten wir uns mit unserem Kameramann Dominique Fausset von diesen Prinzipien lösen.


ES GIBT EINEN QUALITATIVEN SPRUNG ZWISCHEN DER ANIMATION IM ERSTEN UND IM ZWEITEN FILM.

TS: Ja, weil sich unser Bemühen, das im ersten Film Erreichte weiter voranzutreiben, auf allen Ebenen widerspiegelt, auch visuell bei der Animation. Die Firma The Yard, die sich um die Spezialeffekte kümmerte, hat alle unsere Erwartungen übertroffen. Hélène und ich waren oft verblüfft, als sie uns die Animationen zeigten: Die Sturmszenen sind unglaublich, bis ins kleinste Detail wurde mit extremer Sorgfalt gearbeitet. Sie gingen so weit, Staubkörner in die Rillen der Brücke der Galeone einzufügen. Eine unserer Lieblingsszenen ist die, bei der Schnee auf das Boot fällt: Jede digitale Schneeflocke ist einzigartig und schmilzt allmählich, wenn sie das Deck berührt.

HG: Wir verwendeten eine neue Rendering-Technologie, die es erleichterte mit dem Material und der Transparenz einiger Insekten zu arbeiten. Es sollte natürlich auch nicht zu realistisch sein, aber ich finde, wir haben da ein gutes Maß an Ausgewogenheit gefunden. Besonders anspruchsvoll war die Animation der Gottesanbeterin, deren durchscheinender Körper mit einer Technik realisiert wurde, die bisher erst in zwei Filmen Anwendung fand: in unserem und im Disney-Film VAIANA (2016). Eine weitere Neuheit ist der Einsatz von Photogrammetrie: Es geht darum eine Umgebung mithilfe synthetischer Bilder nachzubilden, indem sie aus allen Blickwinkeln fotografiert wird. Damit lässt sich ein nahezu absoluter Realismus erreichen. Zum Beispiel wenn die Ameisen im Lebensmittelgeschäft ankommen, gehen wir nahtlos von einer Kranaufnahme im Dorf (im Nationalpark Mercantour) in eine vollständig animierte Szene über. Dieser Übergang ist nicht zu sehen. Wir versuchen immer, die verschiedenen Techniken zu verbinden, den Außenbereich, die Studios, Modelle und Computeranimationen. Die Photogrammetrie hat dabei sehr geholfen.


TROTZ DER VERWENDUNG DIGITALER TECHNOLOGIEN SIND SIE IMMER NOCH AN PHYSISCHEN MODELLEN INTERESSIERT.

HG: Man sollte beachten, dass DIE WINZLINGE zu Beginn reine Handwerksarbeit war. Eine Serie, die Thomas und ich fast allein und mit sehr geringen Mitteln realisiert haben. Auch wenn wir jetzt ein größeres Budget für unsere Filme haben, möchten wir den selbstgemachten Charakter nicht verlieren. Die Filme sollen eine optimierte Form dessen sein, was wir vorher gemacht haben. Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass die Zuschauer instinktiv wissen, ob das, was sie sehen, wirklich physisch existiert oder nur animiert ist. Auch aus diesem Grund lieben wir Modelle so sehr.

TS: Zum Beispiel wollten wir das Innere des Haifischs unbedingt als Modell bauen, um die verschiedenen Ebenen bearbeiten und um all diese Mikrokollisionen mit dem bewegten Wasser überzeugend darstellen zu können. Wir wussten, dass diese Einstellung nicht vollkommen realistisch ist, aber dieser handwerkliche Aspekt gibt dem Film seine zweite Dimension, die wir lieben. Nichts ist wunderbarer als ein schönes, perfekt gefilmtes Modell.

HG: Und wenn unser Szenenbild ausschließlich aus computergenerierten Bildern bestand, haben wir versucht ihren fühlbaren Charakter aufzuspüren und hervorzuheben. Zum Beispiel wurde die Galeone als Modell angefertigt, bevor sie animiert wurde.


ES GIBT EINE BEEINDRUCKENDE VIELFALT AN KULISSEN IM FILM, VOM MARIENKÄFERBAUM IN GUADELOUPE, ÜBER DIE GROTTE DER HAARIGEN SPINNE BIS HIN ZUM DSCHUNGEL UND STRAND.

HG: Wir reisten mehrere Wochen lang durch den gesamten Guadeloupe-Archipel, um im Herzen des Waldes, an naturbelassenen Stränden oder an abgelegenen Orten wie den Ecrevisses Wasserfällen zu drehen. Unmittelbar danach ging es zurück zu den Dreharbeiten im Mercantour-Nationalpark und an den Flughafen von Nizza. Aber wir haben auch viele der Sets von Grund auf neu gebaut, weshalb das Szenenbild von DIE WINZLINGE – ABENTEUER IN DER KARIBIK auch noch mehr Zeit in Anspruch nahm als beim ersten Film. Ich habe sechs Monate lang intensiv mit vier sehr talentierten Künstlern zusammengearbeitet, um all diese Landschaften, aber auch die neuen Charaktere zu erschaffen.

TS: Wir haben auch noch viel mehr menschliche Sets, was eine weitere Neuerung für uns war. Franck Benezech, unser leitender Produktionsdesigner, erbaute im Studio das Lebensmittelgeschäft, die angrenzende Gasse ebenso wie den Lagerraum und den Marienkäferbaum. Die Arbeit im Studio gibt dir nicht nur die volle Kontrolle über deine Inszenierung, sondern diese Sets geben unserem Universum auch eine leichte Diskrepanz, etwas losgelöst von unserer Realität. Aus diesem Grund wollten wir auch einen eigenen Transporter kreieren und nicht den erstbesten weißen Van mieten. Der Renault Estafette, der auf dem Flughafen von Nizza ankommt, erzeugt einen interessanten grafischen Kontrast – als ob zwei Welten aufeinander prallen würden. Nach diesem Prinzip ist der ganze Film aufgebaut: Es gibt immer wieder ein Element, das in eine fremde Umgebung eindringt. Ein ästhetischer Kniff, der mir typisch für eine Abenteuergeschichte erscheint.


WIE SCHON IM ERSTEN FILM ARBEITEN SIE WEITER AN DER PSYCHOLOGIE IHRER FIGUREN.

TS: Die beiden Filme sind in gewisser Weise auch Charakterstudien, was bei der Serie nicht der Fall war. Und in dieser Fortsetzung versuchten wir, die Charakterzüge unserer Helden aus dem ersten Teil weiterzudenken.

HG: Zum Beispiel wollten wir, dass die schwarze Spinne eine Entwicklung durchmacht. Sie hat einen sehr eigenen Charakter, den wir lieben, der uns aber noch zu wenig Beachtung fand. Wir wollten sie aus ihrem Puppenhaus holen, wo sie in DIE WINZLINGE – OPERATION ZUCKERDOSE noch festsaß, und das ganze Potenzial dieser mysteriösen Figur ausschöpfen. Sie ist immer noch eine mürrische Einzelgängerin, aber sie hilft ihren Nächsten auch ein kleines bisschen, wenn nötig. Was die Ameise betrifft, ist diese nun nicht mehr in der Position der Truppenführerin: Sie wird von der Spinne an die zweite Position degradiert. In unseren Augen machen all diese Herausforderungen unsere Charaktere noch liebenswerter. Auch der Marienkäfer hat eine Entwicklung hinter sich: Im ersten Film haben wir ihn als Kind/Teenager kennengelernt. Diesmal sieht er sich mit Erziehungsfragen konfrontiert, bis hin zu einer sehr schwierigen Entscheidung mit einem mutigen Abschluss.


DIESER WUNSCH, DIE ENTWICKLUNG DER CHARAKTERE ZU ZEIGEN, KONNTE NICHT OHNE INTENSIVE ARBEIT AN DER ANIMATION REALISIERT WERDEN.

TS: Wir haben viel von den Charakteren des ersten Films gelernt, konnten ihr Verhalten weiterentwickeln und dabei, dank der Arbeit von Futurikon und des gesamten Teams von Supamonks Studio, auch auf sehr subtile Details eingehen. Aber wir mussten uns an die Regeln von DIE WINZLINGE halten, das heißt auf Vermenschlichung verzichten, neutrale Ausdrücke zeigen und unsere Figuren nicht überanimieren, wie es bei den meisten anderen Animationsfilmen der Fall ist. Es sind die Situationen und die Inszenierung, die die Emotionen hauptsächlich vermitteln. Wir haben uns aber auch den Kuleschow-Effekt immer wieder zunutze. DAS IST ES AUCH, WAS DIE WINZLINGE ZU EINEM KINOFILM MACHT. TS: Es gibt keinerlei Dialoge und die Charaktere sind damit in ihren Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt. Die Erzählung vollzieht sich visuell, basierend auf dem, was die Kamera uns zu sehen gibt. Das kann inszenatorisch sehr komplex sein. Vor allem, wenn wir komplexe Ideen weitergeben wollen. Ich denke zum Beispiel an die Beziehung zwischen dem Marienkäfer und seinem Sohn. Auch aus diesem Grund spielt der Schnitt bei diesem Film nur eine begrenzte Rolle: Wenn wir zwei Aufnahmen umkehren, geht die Bedeutung verloren. Alles hängt vom Drehbuch und vom Storyboard ab.

HG: Wir können keine Dialoge nutzen, um etwaige Mängel in der Inszenierung auszugleichen. Und wir versuchen, es so einfach wie möglich zu halten, was sehr kompliziert sein kann. Es gibt bei DIE WINZLINGE keine Kunstgriffe, jedenfalls nicht in der Inszenierung – die ist ganz ungeschminkt.

Foto:
© weltkino.de

Info:
Regie: Thomas Szabo, Hélène Giraud
Drehbuch: Thomas Szabo, Hélène Giraud
Musik: Mathieu Lamboley
Animation: The Yard, Supamonks, Futurikon