Wer bekommt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 62. Berlinale vom 9. bis 19. 2. 2012, 11/25

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) –Léa Seydoux hatte mit diesem Film der schweizerischen Regisseurin Ursula Meier einen erneuten Auftritt auf der Berlinale, der schon dadurch spannend ist, daß sie aus dem 18. Jahrhundert bei französischem Hofe (Eröffnungsfilm 1/25) nun in einen Plattenbau - würde man in Berlin und im Osten sagen -, also in ein Hochhaus in den Schweizer Bergen versetzt wird, wobei die soziale Position auch hier eine niedere ist, nur hat sie in der reichen Schweiz noch nicht einmal regelmäßig Arbeit.

 

Woran ihre Unfähigkeit, mit einem bürgerlichen Leben zurechtzukommen, liegt, merkt man dieser in den Tag hineinlebenden Louise durchaus an, nicht aber die Ursachen. Zwar denkt man sich seinen Teil, wenn ihr Bruder Simon – der eigentliche ‚Held’ des Geschehens und sehr stimmig und entschieden von Kacey Mottet Klein gespielt – im Laufe des Films seine Rolle als kleiner Bruder fast zu der eines Luden verändert, wobei er die Zuhälterrolle nur für seine Privilegien nutzt, nämlich für entsprechenden Aufpreis im Bett der Schwester schlafen zu dürfen, nein, nein, nicht mit ihr, darum geht es gar nicht, sondern darum, daß er sich ihre Liebesbeweise, wie in den Arm nehmen oder gemeinsam etwas unternehmen, mit Geld erkaufen muß

 

Denn Geld hat er. Schließlich hat er den Dreh raus, wie er dort oben auf den Bergen beim Skilaufen den Reichen ihre Sachen klaut, ganze Rucksäcke ausräumt, aber auch Skizubehör und vor allem die teueren Ski. Das geklaute Zeug verkauft er viel zu billig, woran man merkt, daß es nicht das Geld allein ist, weshalb er zum Superdieb wird, sondern die soziale Anerkennung, die ihn treibt. Mit diesen Szenen beginnt der Film und wir begleiten Simon auf seinen Beutezügen. Dazu muß er von unten aus dem Tal – brausender Verkehr und Industrie - hoch oben auf die weißen Berge mit dem Skilift gelangen.

 

Deutlich spürt man die Absicht der Regisseurin, der geographischen Topographie eine soziale Entsprechung zu geben. Unten ist arm, oben ist reich. Nun ist dies insbesondere für Deutsch Sprechende eine geläufige Redeweise. Wir sprechen von Unterschicht und Oberschicht, es gibt das Unterland und das Oberland wie heißt es bei Degenhardts Schmuddelkindern so schön: „Geh doch in die Oberstadt, mach’s wie Deine Brüder!“ Von daher war uns dies nicht eine subtile räumliche Zuordnung, sondern eher eine aufdringliche, weil zu platte.

 

Im Film gibt es viele ansprechende filmische Lösungen, die Erzählung voranzutreiben. Die gestohlenen Gegenstände des wohl 13jährigen, der diese auf einen kleinen Schneetransporter packt und querfeldein auf dem kürzesten Weg ohne die gesicherten Straßen nach Hause führt, veranlaßt einen zu formulieren, daß hier einer seine eigenen Bahnen zieht. Zwar individuell, aber auch sehr sehr einsam. Diese Verlorenheit läßt Simon aber nicht heraus, sondern heilt sie für sich durch Kleptomanie, denn etwas Manisches hat das, das merkt man spätestens dann, wenn es um Dinge geht, die ihm gar nichts nützen, ihm nichts bedeuten.

 

Nur zweimal wird er von Männern erwischt. Das eine Mal macht sich dieser die schnellen und kleinen Finger des Knaben zu nutze und bestellt bei ihm Diebeswahre, das andere Mal schlägt ihn der Bestohlene nieder, als er dies bemerkt. In diesem Kontext finden wir den Film eindimensional. Daß es schwierige Kindheiten, arme Kinder, Kinder ohne richtige Chancen gibt, ist ein trauriger Allerweltstatbestand Worauf es also ankäme, wären Optionen im Film, aus dem Dilemma herauszukommen. Zumindest darf man erwarten, daß es ein unterprivilegierter, aber schlauer Junge fertig bringen müßte, die Gefährlichkeit, weil Dummheit, auch dann noch weiter zu klauen, wenn die Aufmerksamkeit auf ihm ruht, einzusehen und dies zu unterlassen.

 

Leider läßt die Regisseurin und das Drehbuch dem Jungen keine Chance, selber den eingeübten, aber nun erfolglosen Mechanismus zu durchbrechen. Sie geben ihm noch nicht einmal die Chance des sozialen Lernens. Denn er klaut seelenlos, ist sich gar nicht bewußt, daß an den Dingen vielleicht das Herz von jemandem hängt. Darf nie den Schmerz und das Verlustgefühl bei jemandem bemerken und auch nicht das Weinen der Kinder, wenn sie ihre Ski nicht mehr vorfinden, weil er sie allesamt gestohlen hat.

 

Nein, hier geht es nicht um Moral. Das wäre noch eine ganz andere Geschichte. Aber daß man einem Kind so wenige Chancen läßt, sich selber aus prekären Verhältnissen wieder herauszuwinden, finden wir für dieses und den Film bedauerlich. Die Eltern? Das ist eine andere Geschichte, er auf jeden Fall erfindet ständig welche und als wir seine Aussage für erfunden halten, stellt sie sich als echt heraus.