wolf biermann c thorsten jander.jpg 1420x695 q85 crop subject location 9331170 subsampling 2 upscaleDAS JÜDISCHE LOGBUCH  Mitte September 

Yves Kugelmann

Berlin-Paris (Weltexpresso) - Auf der Bühne im Berliner Ensemble singt, rezitiert, beleuchtet der 86-jährige Liedermacher über zwei Stunden Texte, Adaptionen, Lieder von und zu Heinrich Heine. Auswendig. Ein faszinierendes Zwiegespräch zwischen zwei großen deutsch-deutschen Dichtern. Standing Ovations. Heimspiel auf Biermanns Brecht-Bühne. Geistreich, politisch, jüdisch, witzig – und immer wieder erkenntnisreich wahr. 
Ein Blick 200 Jahre zurück in die Zukunft. Die Texte über Judentum, Krieg, Gesellschaft, das Allzumenschlichmenschliches klingen wie von jetzt. Die Menschheit wird verhandelt. Heinrich Heine, so sagt Biermann, der deutscheste unter den Deutschen, der jüdischste unter den Juden. 

Elul, Jamim Noraim, die aufgeladene Zeit voller großer Symbolik. Menschen, die auf einmal einkehren und versöhnliche Töne anschlagen mit Mitmenschen, ins Buch des Lebens eingetragen werden wollen. Glaube und Aberglaube liegen in diesen Tagen nahe beieinander und mit Blick auf die Weltgeschehnisse liegt die Frage nah, ob in den elf folgenden Monaten die guten Vorsätze wieder an die Wand gefahren werden. Wer hätte sich zu Rosch Haschana ausmalen wollen, was das neue jüdische Jahr für einen dramatischen Wandel für die jüdische Welt bedeuten würde. Die Spaltung, der Streit, die Gräben. Judentum wird atomisiert.

Und da ist Heine wieder ein paar Tage später am Friedhof von Montmartre in Paris: «Ja, ich sage es bestimmt, unsere Nachkommen werden schöner und glücklicher sein als wir. Denn ich glaube an den Fortschritt, ich glaube, die Menschheit ist zur Glückseligkeit bestimmt, und ich hege also eine größere Meinung von der Gottheit als jene frommen Leute, die da wähnen, er habe den Menschen nur zum Leiden erschaffen.» Heines Dichtung, war eine ums Judentum hin zur Säkularisierung. Da liegt der große jüdische Dichter, der Dichter des modernen Judentums – mit all seiner Dialektik zur oft ungehörten Erkenntnis. Wird Rosch Haschana 5784 für einen inneren Neuanfang stehen inmitten des jüdischen und des Weltenstreits, inmitten des Krieges, inmitten der Entzweiung von Mensch und Natur? Im alten Antiquariat von St. Germain liegt sie im Schaufenster in der Ecke wie eine Erinnerung an die Zukunft, Heines Schrift «Der Rabbi von Bacharach» in einem frühen Druck. Der Text zur Judenemanzipation. Wie ein Mahnruf. Einmal mehr sind sie gefordert.

Foto:
©thorsten jander, Elbhphilharmonie

Info:
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.