Bildschirmfoto 2025 06 09 um 09.47.30Im Gespräch mit Michael Atar 

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Die Neer-App wurde konzipiert, um Menschen dazu zu animieren, einanderzu treffen und somit der sozialen Einsamkeit entgegenzuwirken – ein Interview mit dem Erfinder.


tachles: Jüngst publizierte Studien zum Thema Einsamkeit ergaben überraschend, dass auch Jüngere extrem betroffen sind. Gehört das, über die Pandemie hinaus, zum Hintergrund von Neer?

Michael Atar: Die Idee von Neer als Hilfsmittel, um Leute zusammenzubringen, hatte ich schon vor acht, neun Jahren, lange vor der Pandemie und #MeToo. Ich sah das Bedürfnis vor allem von meinem Standpunkt als Psychotherapeut aus: Leute haben Mühe, aufeinander zuzugehen, offen zu sein, sich dennoch dabei sicher zu fühlen und – vor allem – etwas zu riskieren. Da spielt auch ein vermehrtes Bewusstsein für Neurodivergenz bei Menschen, etwa aus dem Autismusspektrum, mit, für die es schwierig ist, sich in unserer Gesellschaft zu bewegen. Dann kam die Pandemie dazu, die alle isolierte. Ich sah bei meiner Arbeit für eine Krisenplattform, auf der Hilfesuchende und Therapeuten in Textform kommunizieren können, was für Probleme das verursacht hat.


Was ist an der Idee von Neer anders?

Es gibt ja unzählige Apps, die Leute zusammenbringen, aber entweder werden diese nur über «Swiping» benutzt, bis jemand etwas vermeintlich Passendes gefunden hat – also ohne Risiko, aber mit sehr wenig Gewinn –, oder sie sind ausschliesslich für Dating bestimmt. Aber wir alle haben doch ein wenig genug davon, in ein Szenario gepresst zu werden, das nicht so locker ist, wie es sein sollte. Wir wollen einfach Leute treffen, zusammen sein, und dann kann sich etwas ergeben oder nicht – auch einfach eine Freundschaft. Auch #MeToo spielt hier herein: Weibliche Benutzer brauchen Sicherheit, wenn sie sich treffen. Aber nach meinem Gefühl ist auch die männliche Seite sehr verunsichert und zögernd, weil heute vieles als Belästigung interpretiert werden kann.


Was ist auf der analytischen Ebene in den letzten Jahrzehnten passiert, dass die Einsamkeit, das Alleinsein, auch in der Empirie so bedeutungsvoll geworden ist?

Das ist multifaktoriell. Ein grosser Anteil stammt aus unserer westlichen «First World»-Annäherung an das, was wir im Leben als Priorität ansehen – und hier haben das Wort «ich» und wie ich mich verwirkliche eine riesige Bedeutung. Es hat sich über mehrere Jahrzehnte so entwickelt, dass das Ich so wichtig geworden ist, dass die Fähigkeit, sich selbst einzubringen und etwas von sich selbst aufzugeben, um Kontakte zu schaffen, mehr und mehr verloren gegangen ist. Im Vergleich dazu geht man in anderen Gesellschaften, etwa in Asien, viel mehr aufeinander zu.


Sie verorten diese Probleme also stark in der westlichen Welt?

Das ist mein Gefühl. Weltweit gibt es einen Trend, mehr auf sich selbst zu schauen und dadurch die Kontaktfähigkeit zu verlieren. Auch die Akzeptanz und damit die Etablierung von Diversität gibt vielen Leuten das Gefühl, dass sie nicht mehr hinausgehen und jemanden ansprechen können, weil sie eben «anders» sind. Dennoch ist es im Moment immer noch eine eher westliche «First World»-Entwicklung.


Die Neer-App ist zwar auch eine technische Lösung, aber sie zielt darauf ab, dass man sich trifft. Richtig?

Das ist nicht nur ein Ziel, sondern die App ist auch so konfiguriert, dass das Messaging auf ein Minimum limitiert ist. Sie gibt auch die Möglichkeit, Signale zu geben – aber nicht mehr. Zum Beispiel: Das ist mein Interesse, und ich bin heute da und da zu treffen. Jemand anders kann ähnliche Signale geben. Aber dann muss man raus und die Person treffen.


Ein Türöffner für die Realität, die echte Begegnung?

Ja, und auch für Interessierte, die ihre soziale Seite wieder ein wenig besser erlernen möchten. Wir zeigen kurze Videos dazu, wie man sich am besten verhält, was positiv ist und was nicht so gut ankommt in der heutigen Zeit. Die App ist für mich eine Art zweites, soziales Gehirn, das wir benutzen können, um sicher in die Gesellschaft hinauszugehen, in der wir sein möchten.


Wer steht denn hinter Neer?

Einmal ich als Gründer der Firma, aber derzeit bildet sich ein Team mit einem Kreativdirektor und einem Marketing- und Kreativteam in New York. Wir wollen dafür sorgen, dass die App letztendlich weltweit benutzt werden kann. Das Ganze ist ein Start-up, und hinter jeder Idee steckt natürlich auch ein kommerzielles Interesse. Wir wollen die App professionell produzieren und mit ihr den Nutzern auch eine grösstmögliche Sicherheit bei den Treffen geben.


In früheren Zeiten war das Thema Sicherheit nicht so omnipräsent wie heute. Hat uns die Technik das unbefangene Zusammensein genommen?

Ja und nein. Ich bin ein grosser Befürworter von Technik, Innovation und Zeitgeist und habe einige Artikel über das soziale Zusammenleben im Zuge neuer Technologien oder etwa Künstlicher Intelligenz geschrieben. Es ist nicht alles schlecht, was wir produziert haben. Aber mit jeder Innovation seit der Industrialisierung gab es auch negative Effekte und Kritik. Die heutigen Probleme hängen auch ganz einfach mit der Entwicklung der Menschheit zusammen. Wir können uns indessen die technische Entwicklung positiv zunutze machen.


Würden Sie als Wissenschaftler Ihr Projekt als Therapie verorten? Oder als Notwendigkeit?

Schlussendlich werden das Bedürfnis und die Anzahl der Benutzer zeigen, welchen Bedarf es für eine solche App gibt. Aber es ist evident, dass wir lernen sollten, uns wieder sicher zu fühlen, und dass wir hierfür Hilfsmittel haben. Es ist sicher nicht eine Therapie – darüber könnten wir allenfalls in 20 Jahren reden, wenn das Ganze zu einem Erfolg wird und wirklich grosse Änderungen bewirken kann. Derzeit kann es einfach ein bedeutendes Hilfsmittel sein, wieder raus- und auf andere Leute zuzugehen.


Ersetzt die App als Vermittlerin auch ein wenig das Matchmaking durch Eigeninitiative?

Das Matchmaking ist ja Sache der Dating-Apps, und die existieren nur mit «Swiping». Aber Studien zeigen, dass die Leute genug davon haben. Nach meiner Auffassung kann Swiping sogar depressiv machen: Man sitzt zuhause und wischt Leute innert drei Sekunden weg. Das ist doch schon irgendwie inhuman und erzeugt eine Ermüdung, und darüber hinaus hat es auch Suchtpotenzial. Der statistische Erfolg von Dating-Apps ist wirklich schlecht und die Chance, jemanden zu finden, sehr gering. Neer hat nicht das Dating als Priorität. Wir werden dabei mit «Safe Spots», also sicheren Orten, von Partnern zusammenarbeiten, wo die Leute hingehen können und wissen, dass sie dort andere und seriöse Neer-Benutzer antreffen. Einen Kaffee zusammen trinken, Tennis spielen, auf ein Konzert gehen, ohne dass Dating im Vordergrund steht.


Die Lancierung soll nun mit einer Kampagne in London erfolgen. Was ist genau geplant?

Zunächst galt es, die sehr komplexe App zu produzieren – das war für uns schon schwierig genug. Wir mussten ja GPS mit sozialen Funktionen wie Interessen etc. kombinieren. Dann genügt es nicht, eine App einfach in einen Store zu stellen. Wir planen also derzeit die Lancierung mit ein paar Anlässen wie etwa Dinners mit Markenpartnern in London. Für Thanksgiving wollen wir in New York an den Start gehen. Für diesen Feiertag kommen Menschen zusammen, aber es gibt auch viele, die dann einsam sind, analog zu Weihnachten. Dann sollen Israel, die USA und Indien folgen.


Wann würden Sie als in eine Familie Eingebundener diese App allenfalls selbst nutzen? Ist sie auch für Menschen wie Sie und mich gedacht?

Alle, mit denen ich bislang über das Projekt gesprochen habe – also auch Anwälte und andere Professionelle –, waren angetan von der Idee. Beispielsweise, wenn jemand zwar mit vielen Leuten verkehrt, aber im dritten Stock seines Hauses niemanden kennt oder abends Squash spielen möchte und keinen Partner hat. Ich selbst würde diese App benutzen, aber natürlich mit anderen Vorstellungen, beispielsweise um Networking zu betreiben.


Kann man sich denn beim Erstellen des Profils als Squashspieler kennzeichnen oder als jemand, der abends etwas trinken gehen möchte?

Es gibt verschiedene Stufen. Das erste ist die Sicherheit, bei der wir schnell checken, ob die Person jene ist, als die sie sich anmelden will. Dann wird ein kleiner Betrag fällig, damit nur wirklich Interessierte mitmachen. Eine weitere Stufe ist jene der Interessen mit fünf frei definierbaren Punkten. Danach kann man angeben, was man heute machen möchte. Beide Stufen kann man jederzeit ändern, wobei die Interessen vermutlich eher unverändert bleiben werden. Aber die täglichen Wünsche für Unternehmungen sind natürlich variabel, wenn jemand nicht gerade monatelang Kaffee trinken gehen möchte. Die App ist sehr flexibel, und das Profil ist in wenigen Minuten erstellt und kann sofort gebraucht werden.


Und noch die persönliche Frage: Wo stehen Sie derzeit als Wissenschaftler mit Ihren Forschungen, zu denen Sie ja auch schon öfter publiziert haben?

Neer und ein Tech-Start-up, das vor allem auf jüngere Leute abzielt, sind für mich mit über 50 etwas ganz Neues. Das andere Standbein ist vorwiegend Bio-Med-Tech, in die ich viel investiert, aber auch Beiträge zu verschiedenen Start-ups auf diesem Gebiet geleistet habe. Das grösste ist derzeit ein sehr erfolgreiches Unternehmen für die Schnelldiagnose von Sepsis. Das Verfahren ist in den USA bereits zertifiziert; wir haben 250 Millionen Dollar als zusätzliche Finanzmittel erhalten und weiten dies jetzt auf Spitäler in Amerika aus. Sepsis ist ein grosser «silent killer», steht nicht so in der öffentlichen Wahrnehmung und ist in der Forschungsfinanzierung nicht gerade populär. Bislang dauerte eine Diagnose mehrere Tage – zu lang, um eine schnelle Intervention zu ermöglichen – und kostete sehr viel Geld, auch, wenn es sich im Nachhinein nicht als Sepsis erwies. Wir reduzieren eine ausreichend sichere Diagnose auf unter zehn Minuten.


Also Leben retten, verlängern oder vereinen: Wie viel jüdische Sozialisation von Ihnen ist in diesen Projekten drin? Oder sind Sie einfach Wissenschaftler, Arzt und Forscher?

Beide Seiten sind wichtig. Der wissenschaftliche Hintergrund ist sicher eine Hilfe, aber etwas nicht einfach als Investition Anzusehendes. Leuten zu helfen, Leben zu verlängern und Menschen zusammenzubringen, ist ebenso sicher mein Antrieb.

Foto:
Michael Atar engagiert sich für neue Wege der Begegnungen.
©tachles


Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 6. Juni 2025 

Yves Kugelmann