Bildschirmfoto 2021 12 26 um 02.49.24Die jüdische Identität und die Ein-Staaten-Lösung

Redaktion tachles

Tel Aviv (WEltexpresso) - Jahrzehntelang war einer der wichtigsten israelischen Schriftsteller der Gegenwart ein stimmgewaltiger Befürworter der Zwei-Staaten-Lösung: Abraham B. Yehoshua, oder auf Hebräisch einfach nur «Aleph Bet Yehoshua» nach den ersten beiden Buchstaben seiner beiden Vornamen genannt. Yehoshua trat für das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat auch deshalb ein, weil er die jüdische Identität bewahren wollte. Die Identität des Staates und des Individuums.

Er beklagte das Fehlen von Grenzen. Diese seien überaus wichtig, denn sie würden die Definition des eigenen Ich und das des anderen ermöglichen. Sein gesamtes schriftstellerisches Werk beschäftigt sich mit diesen Themen der Grenzüberschreitung und -Bewahrung, der Grenzziehung, der Tabus, die das Überschreiten einer Roten Linie bedeutet. Irgendwie war es vielleicht auch kein Zufall, dass Yehoshua fast sein ganzes Leben in gemischten Städten lebte: in Jerusalem und Haifa. Erst jetzt, als Mann in den Achtzigern, lebt er in einer Stadt, in Givatayaim, in der es keine Araber gibt.

Und jetzt, ausgerechnet, hat der Schriftsteller, der mit dem verstorbenen Amos Oz und David Grossman das Dreigestirn der modernen hebräischen Literatur bildet, seine Meinung geändert. Heute tritt er für die Ein-Staaten-Lösung ein. Da gibt es Gründe für den Autor, die offensichtlich sind. Die Zwei-Staaten-Lösung ist nicht mehr realisierbar, das Siedlerprojekt ist so erfolgreich, dass es nicht mehr aufgelöst werden könne. Und wenn, dann nur unter der Inkaufnahme eines blutigen Bürgerkriegs in Israel, der viele Tote und ein völlig zerstörtes Staatswesen zur Folge hätte.

Doch da sind auch andere Gründe, die weniger offensichtlich sind. Für Yehoshua ist die Frage der jüdischen Identität eine andere geworden. Man müsse sie neu denken, angesichts des bi-nationalen Staates, in dem er und alle anderen jüdischen Israelis längst leben. Und dieser bi-nationale Staat sei eine Bedrohung für die israelische und die jüdische Identität. 2018 hatte Yehoshua seine Thesen veröffentlicht. Doch er irrte in vielen Punkten. So etwa in der Überzeugung, dass die israelische Staatsangehörigkeit Juden und Arabern innerhalb Israels eine einigermassen erträgliche Basis für vernünftige Beziehungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit angeboten hätte.

Doch wer sich an die Unruhen in den «gemischten» Städten innerhalb Israels während des letzten Gaza-Krieges erinnert, weiss, dass die Vorstellungen Yehoshuas unrealistisch waren. Mit Ausnahme der Tatsache, dass sich Israel auf dem Weg zur Ein-Staaten-Lösung befindet. Und wenn dieser Staat kein Apartheidstaat werden will, dann wird die Frage der israelischen und jüdischen Identität tatsächlich neu verhandelt werden müssen.

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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 24. Dezember  2021