Ein Erzählmuster in US-amerikanischen Thrillern, Teil 2/2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Ich war eine berühmte Mörderin.“, heißt der erste Satz und sofort weiß man, dass die Vergangenheitsform ’war’ ja wohl beinhalten muß, dass das weibliche Ich, immerhin steht dort Mörderin und nicht Mörder, heute keine berühmte Mörderin mehr ist. Und schon liest man: „Das ist alles nicht wahr“. Was soll das denn? Und dann beginnt die Kriminalgeschichte ganz von vorne und wird stringent von der Icherzählerin, der jungen Frau, die Evie Gordon heißt, die durch Nachhilfe für reiche Mädchen ihren Lebensunterhalt aufbessert, erzählt.
Das Unheil beginnt, als sie am Sonntagnachmittag zu den reichen Victors kommt, wo sie die siebzehnjährige Serena auf die Zulassung zur Universität vorbereitet. Doch diesmal steht die Haustüre auf und trotz ihres Rufens antwortet niemand. Sie geht hinein, doch niemand ist da. Sie schickt an Dinah, die Mutter, die einst Schauspielerin war, eine Nachricht ihres Hierseins und eine an ihre Schülerin. Doch es passiert nichts. Sie hört ein Handy im Haus und macht sich auf die Suche nach den Hausbewohnern. Erst findet sie die tote Mutter, mit einem blutigen Stein erschlagen, dann im Teich den toten Vater. Sie eilt zur Haustür, hört aber ein krächzendes „Hilfe“ und sucht die rufende Person. Erst findet sie die Türe nicht, das Haus ist voller versteckter Gänge und Zimmer, dann entdeckt sie eine völlig verdreckte, bestialisch stinkende, mit Kabeln gefesselte Gestalt, die sich als etwa gleichaltrige junge Frau herausstellt. Sie schneidet die Kabel durch, hilft ihr Richtung Haustür, als die Tochter des Hauses dieses betritt, aufschreit und die Polizei anrufen will. Das will Evie verhindern, erst soll Serena von der gefesselten Frau hören, doch mit einer Lampe schlägt Serena ihre Nachhilfelehrerin nieder und sieht wie im Nebel, dass die befreite Frau ihrerseits Serena mit einer Vase zu Fall bringt. Sie steht nicht mehr auf und Evie denkt, dass sie tot ist. Da taucht in der Haustür der Freund Serenas auf….
Flucht ist das einzige, was die beiden jungen Frauen jetzt gleichermaßen denken. Denn sie wähnen Serena tot. Und schon beginnt eine Flucht quer durch die USA, die fast 400 Seiten währt. Es wird alles ganz anders sein. Aber erst einmal reagiert die Icherzählerin Evie kopflos. Nichts wie weg, ganz weit. Sie möchte natürlich von der stummen jungen Frau, die ihr erst nach der Hälfte des Krimis ihren Namen Jae verrät, wissen, welches Martyrium sie bei den Victors erlebt hat, warum sie so abgemagert und gefesselt war. Was man ihr angetan hat. Doch Jae schweigt. Aber sie hat sie doch ‚Hilfe‘ rufen hören und auch ‚Schlüssel‘ hatte sie gesagt, als sie aus dem Haus der Victors zu Evies Auto rannten.
Sie schweigt konsequent und Evie kann gar nicht anders, als den Schock bei ihr so tiefsitzend zu vermuten, dass deren Sprachfähigkeit verloren gegangen ist. Wie wir so sind, will sie ihrer Mitfahrerin das Gefühl von Vertrauen und Sicherheit vermitteln und vor allem als erstes ein Bad und etwas zu essen. Sie will sie hochpäppeln, denn Evie hat tatsächlich Angst, dass diese Jae in der Mitte auseinanderbricht, so dürr sieht sie aus.
Evie wird sich und uns nun erzählen, wie sie mit Jae auf der Flucht ist, denn sie gelten als die Mörderinnen der Victors; Serena liegt im Koma in der Klinik und Evie hofft, dass diese aufwacht und sie entlastet. Aber warum eigentlich? Wegen Jae, denn es müssen ja die Eltern gewesen sein, die diese gefesselt und halb verhungern haben lassen. Oder hat Serena mitgemacht. Aber warum das Ganze. Jae hüllt sich in Schweigen, obwohl sie nach und nach nach Hunderten von Kilometern im Wagen immerhin anfängt, etwas zu sprechen. Aber von ihrem Martyrium kein Wort.
Die beiden werden von der Öffentlichkeit gejagt, immer wieder tauchen ihre Gesichter im Fernsehen auf und deshalb müssen sie immer wieder auch schnell fliehen, wenn ein Rezeptionist sie beim Anmelden im Motel erkannt hat. Immerhin ist eine extrem hohe Belohnung auf ihre Festnahme angesetzt. Nach Irren und Wirren wird Evie klar, dass sie nicht ihr ganzes Leben lang fliehen kann. Bevor sie sich stellt, will sie erst einmal ihre Unschuld beweisen, wozu gehört, dass sie den Mörder, die Mörderin findet. Und sie hofft auf das Aufwachen von Serena, die auch klären kann, was die Familie mit Jae angestellt hat, die sich nur sehr langsam von ihren Strapazen erholt.
Es ist ein Debütroman, was man an der ausufernden Flucht durch die USA erkennt. Auf dieser Flucht allerdings baut die Autorin dann Ereignisse ein, die die beiden dann zu wirklichen Mörderinnen macht. Es wird alles etwas viel. Evie will aufgeben. Lieber ins Gefängnis, als sich in Freiheit gefangen fühlen. Dann wacht Serena auf. Und nun ist wieder alles ganz anders.
Die Erzählerin stellt sich als wacher, verantwortungsbewußter junger Mensch dar, der durch Zufall in diese schwierigen Verhältnisse geriet, aus denen er jetzt nicht mehr herauskommt. Diese Erzählung der Flucht wird immer wieder unterbrochen durch Erinnerungen an die Vergangenheit. Sie liebt ihre Eltern und weiß, dass diese zu ihr stehen. Wie kann es ihr gelingen, sich aus einer öffentlichen Mörderin zurückzuverwandeln in ein Opfer, in eine Zeugin. Oder stimmt das alles nicht. Kann man der Erzählerin glauben?
Schon länger stellt sich bei Krimis aus den USA, die stets in Ichform erzählen, der Verdacht des unzuverlässigen Erzählers heraus. Mal stellen sich im Nachhinein die Erzählstränge als Lügen heraus, mal sind sie wahrheitsgemäß. Auf jeden Fall hat das Aufwachen von Serena den Krimi umgewälzt. Immer wird viel aus der Vergangenheit nacherzählt, was nicht immer die heutige Situation erklärt und eher einem Muster von unaufhörlichem Wechsel in den Erzählungen entspricht. Diesem Thriller hätten Kürzungen gut getan. Aber er kann mit einer Überraschung aufwarten.
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Umschlagabbildung
Info:
Hannah Deitch, Killer Potential, List, Ullstein Buchverlage 2025
ISBN 978 3 471 36087 3