MORD von Anjali Deshpande auf Platz 10

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Juli 2023, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – MORD auf Indisch? Besser: Morduntersuchung auf Indisch! „So schön eine Sandale auch sein mag, man hängt sie sich nicht als Kette um den Hals.“, sagt ein Inder zum anderen und meint damit, daß man sich nicht mischen und einmischen soll und kann, von einer Gesellschaftsschicht in die andere, in die höhere natürlich. Was für eine Gesellschaft, wo sogar eine Sandale zu ihrer Metapher werden kann

Hin- und hergeschüttelt werden Sie auf den 207 Seiten, auf denen ständig etwas passiert. Eigentlich sind es nur ein paar Leute irgendwo in Delhi: Icherzähler Adhirath, Polizist und Ehemann von Puschba, die ‚hochgeheiratet‘ hat, was seine Eltern ihm, ihr und den Göttern nie verzeihen werden. Dabei ist sie die einzige normale, weil kluge und pragmatische Person im ganzen Krimi. Eine sehr vernünftige Frau, die ihren, der höheren Kaste entstammenden Schwiegereltern lautstark verbietet, ständig die schlimmsten Schimpfwörter im Munde zu führen, damit der kleine sechsjährige Varun, Augapfel aller, sie nicht aufschnappt und sich aneignet.

Bleiben Adhiraths Mutter Schakuntala, Vater Daulatram, Onkel Bhikulal.

Adhirath , der auf die gerichtliche Überprüfung eines Einsatzes wartet, also suspendiert ist, ermittelt trotzdem auf eigene Faust, als er vom Mord an einer Prostituierten auf dem Lande hört, einer wunderschönen Frau, die zwar viele Namen hat, aber im Roman doch keine rechte Kontur gewinnt. Eine Verliererin, die sich als Siegerin fühlte.
Zwei Sachverhalte also, Gerichtsverfahren und Mordaufklärung, die sich im Roman ständig durchdringen, wobei Icherzähler Adhirath die Hauptrolle spielt. Adhirath ist ständig, meist auf dem Motorrad unterwegs, ständig ändert sich auch der Aufklärungstatbestand, manchmal wird einer, der schon ausgeschieden war, wieder verdächtig. Wir sitzen sozusagen mit Adhirath ständig auf seinem Motorrad, sind mit ihm in Bewegung, verfolgen die Aufklärungsruten, aber auch die Strategien seiner Verteidigung, die sich ebenfalls permanent ändern. Das ist ein Roman, in dem alles in Bewegung ist, weshalb wir die Personen und Orte jetzt festhalten, an denen sich das Geschehen entwickelt und am Schluß zu einer Aufklärung führt, die offiziell einen Mann des Mordes beschuldigt, unter der Hand aber eine männerbündische Gesellschaft

Personen und Orte:
Die schwangere Ermordete mit den vielen Namen: von Geburt Suryabala, aber auch Mohini, Basanti, Renu, aufgefunden im Gutshof Bindal-Hof, nahe dem Dorf.

Polizeikollege, fast Freund: Nitesch; Kollege Dalchand, den Adhirath mit seiner ursprünglichen Falschaussage schützen wollte, Immobilienmakler und zunehmend Vertrauter; Bharat; Immobilien Chetilal, Verwalter des Gutshofs, Nachattar, Verwalter des Nachbarhofs, Stellv. Polizeichef Kashyap, Aschok Verma, Anwalt; Tarun Grover, Anwalt.

Verdächtige: Unternehmer und Kunde der Ermordeten, Udayraj; sein Fahrer Praduman Ortsvorsteher, Dorfratsvorsitzende.

Sympathisch und souverän: Saroj, Ehefrau von Udayraj in der Villa Prit Vihar.

Polizeistation Delhi. Chattarpur, zwei Stunden mit dem Motorrad entfernt, Polizeistation Mandavali

Orte: Stadt Delhi, Gutshofs und Dorf, Chandola, Amipur, Laxmir Nagar, Gorakhpur, Mehrauli

Begriffe: Chapatis, Jhandapur, Bidis, Holi-Feiertage,Dhoti, Jalebis, Kurta, Dupatta, Kashida, Puri Chole, Mathri, Chochak-Zeremonie, Tika, Charpai

Entscheiden sind im Roman die Klassenunterschiede, die wohl nirgends so bürokratisch und äußerlich auffällig festgelegt wie in Indien sind, wo ein Kastensystem dies regelt. Was zusätzlich auffällt, ist die Diskrepanz zwischen Frauen und Männern. Die Frauen regeln Leben und Leute und arbeiten, die Männer haben nach außen die Kontrolle und trinken auffällig viel Alkohol. Auffällig auch, die Generationennunterschiede. Die Alten, die Mittleren wie der Icherzähler und die Jungen. Dann die Unterschiede Stadt und Land, denn der Mord geschah auf dem Land, das eine doppelte Bedeutung hat. Einmal leben dort Bauern, die ihr Land bewirtschaften, aber dann gibt es auch größere Gehöfte, Gutshöfe, regelrechte vornehme Landgüter mit angeschlossener Landwirtschaft oder Fabriken.

Zusammenfassung: 

Es gibt kein Glossar, keine Anmerkungen zu Begriffen, die man nicht kennt, wie z.B. Dhoti. Das irritiert zuerst, dann stellt man fest, daß man das meiste aus dem Zusammenhang versteht, daß also Chapatis frisch sein sollen, gebacken werden, als Brot fungieren. Später macht es geradezu Spaß, sich auf die Begriffe einen eigenen Reim zu machen. Punktum, ich brauche kein Glossar. Viel wichtiger ist der lebendige Eindruck einer Gesellschaft zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Starrheit und Auflösung, wo man die schlangenförmige Gradheit des Icherzählers Adhirath bewundern lernt, der selbstverständlich aus dem Dienst geschmissen wird, als er vor Gericht die Wahrheit sagt. Er hat sich übrigens nur zuschulden kommen lassen, daß er ursprünglich einen Kollegen schützen wollte, der (endlich) den Massenmörder erschoß, der so mächtig war, daß niemals die vielen Zeugen der Morde sich trauten, den Mörder zu benennen, weil dies ihr Todesurteil gewesen wäre. Wir lernen eine korrupte Gesellschaft und eine korrupte Polizei kennen.

Eine clevere Schreibstrategie der Autorin Anjali Deshpande, mit dem leicht als naiv durchgehenden Polizisten, der eigentlich nur einen Mord aufklären will, eine vielfältige Analyse indischer Verhältnisse zu liefern.

P.S.
Das ist der zweite Kriminalroman hintereinander, mit dessen Lektüre nicht nur ein Mordgeschehen aufgeklärt, sondern auch gleichzeitig einmal eine Gesellschaftsanalyse geleistet, ein andermal die historische und aktuelle Lage der indigenen Bevölkerung Neuseelands geklärt wird.



Die zehn besten Kriminalromane im Juli 2023

1 (–) Erin Flanagan: Dunkelzeit
Aus dem Englischen
von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
Atrium, 365 Seiten, 25 Euro

„Gunthrum“, Nebraska 1985. Peggy, wilde 16, ist verschwunden. Hal, geistig
eingeschränkt, hatte in derselben Nacht einen Unfall, Blut klebt am Truck.
Alma mütterlich: Hal oder das Gesetz? Das Dorf, puritanisch und versoffen, rottet
sich schon zusammen. Peggys Bruder Milo sieht alles von unten, ziemlich scharf.


2 (–) Yves Ravey: Taormina
Aus dem Französischen
von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind, 112 Seiten, 20 Euro

Sizilien. Würstchen Melvil und höhere Tochter Luisa krachen nachts beim Ehekittungs-Urlaub gegen etwas, Beule am Mietauto. Mit tollpatschig-selbstherrlichen
Versuchen, alles richtig zu machen, niemanden zu kränken und alles zu vertuschen,
gerät Melvil immer tiefer in den Schlamassel. Bedrückend komischer Mittelmeer-Noir.


3 (–) Yasmin Angoe: Echo der Gewalt
Aus dem Englischen
von Karin Diemerling
Suhrkamp, 424 Seiten, 18 Euro

Ghana, Miami. Bei der Plünderung ihres Dorfes in Ghana wurde Nena Knight
vergewaltigt und als Sklavin verkauft. Jetzt mordet sie selbst: für die Zukunft
Afrikas, Tarnname „Echo“ nach NATO-Alphabet. Als sie auf die psychopathischen
Killer von damals stößt, läuft sie zu Großform auf. Rachegemälde in Blut-Orange.


4 (–) Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
btb, 508 Seiten, 25 Euro

Rom. Am 4. März 2016 folterten und ermordeten die Bürgersöhne Manuel Foffo
und Marco Prato den Handwerker Luca Varani. Anscheinend ohne Grund, aus Lust,
um zu sehen, wie einer totgemacht wird, über mehrere Tage. Tatsachenroman über
das Unerklärbare, das „Das Böse“ genannt wird. Ungeheuer.
 

5 (3) James Kestrel: Fünf Winter
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Suhrkamp, 499 Seiten, 20 Euro

Honolulu, Hongkong, Tokio. Joe McGrady – ein Mann und der Krieg, das Verbrechen
und die Liebe. Der Detective folgt 1941 einem Mörder nach China, wird Gefangener
der Japaner, übersteht den Krieg im Versteck, verliebt sich und lässt nie die Jagd nach
dem Mörder aus dem Auge. Nicht überwältigend, sondern schlicht großartig.


6 (9) Carl Nixon: Kerbholz
Aus dem Englischen
von Jan Karsten
CulturBooks, 304 Seiten, 24 Euro

West Coast, Neuseeland, 1978. Familie Chamberlain stürzt in einen unwegsamen
Fluss. Die Eltern und das Baby sterben, drei ältere Kinder werden Tage später
gefunden und wachsen bei einem Hinterwäldlerpaar auf, wie Arbeitssklaven. Ihre
Tante aus London sucht sie. 32 Jahre später taucht das Skelett des ältesten Jungen auf.


7 (–) Tracey Lien: All die ungesagten Dinge
Aus dem Englischen
von Ulrike Wasel und Klaus Timmerman
Piper, 333 Seiten, 24 Euro

Cabramatta, Sydney. Als ihr kleiner Bruder ermordet wird, kehrt die Journalistin
Ky in die vietnamesische Community ihres Heimatortes zurück und ermittelt auf
eigene Faust. Kein Zeuge traut sich, den Mund aufzumachen. In Schuldgefühlen und
Schweigen kumuliert: das Leid geduldeter Migranten. Emotional forderndes Debüt.


8 (–) Anthony McCarten: Going Zero
Aus dem Englischen von
Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Diogenes, 454 Seiten, 25 Euro

Washington D.C., Boston. Wer sich der geballten Überwachungsmacht von CIA und
WorldShare 30 Tage lang entziehen kann, bekommt drei Millionen. Kann Bibliothekarin
Kaitlyn das schaffen? Multimilliardär Cy Baxter phantasiert vom publicprivate Überwachungsstaat;
Kaitlyn setzt auf Liebe und Vertrauen. Lebe verborgen!


9 (10) Mary Paulson-Ellis:
Das Erbe von Solomon Farthing
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
Ariadne/Argument, 478 Seiten, 25 Euro

Edinburgh, 2016. Solomon soll mögliche Erben eines Soldaten aufspüren, in dessen
Sterbeanzug ein Vermögen eingenäht war. 100 Jahre umspannt seine Recherche,
reicht in die Geschichte seines Großvaters zurück, greift tief aus in Leben und
Sterben eines Trupps, der im Ersten Weltkrieg, dem „letzten aller Kriege“ kämpfte.


10 (–) Anjali Deshpande: Mord
Aus dem Hindi
von Almuth Degener
Draupadi, 207 Seiten, 19,80 Euro

Chattarpur, New Delhi. Suryabala, „Sonnenmädchen“, war schön und hatte große
Träume. Jetzt ist sie erstochen, eine Prostituierte unterer Kaste. Officer Adhirath ist
suspendiert, stöbert doch herum. Kastenschranken, Bürokratie, unantastbare Grundbesitzer,
der „ewige Konflikt zwischen Polizei und Bevölkerung“ – Indien hautnah.

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